Geschichten aus dem Schelderwald

Nanzenbach ist durch seine Historie als Bergmannsdorf sehr eng mit der Geschichte des Bergbaus im Schelderwald verbunden. In dieser Kategorie lesen Sie interessante Geschichten rund um den Bergbau, die damit einhergehenden Arbeitsweisen, Funde und techologischen Errungenschaften.

Der bekannte Wetzlarer Lokalhistoriker Karsten Porezag (www.porezag.de) hat dem Nanzenbacher Lokalhistoriker Uli Horch zwei historisch wertvolle Dokumente im Original überlassen. Es handelt sich hierbei um zwei Grubenberichte der Eisenerz-Gruben

Eiserne Jungfrau
Gemarkung Oberscheld
Vortrieb im Bereich unterhalb des Grubengebietes Falkenstein und neben des Grubengebietes Fortuna
Heute das Wohngebiet Rechts vor dem Sportplatz (Gartenstraße, Hans-König-Weg), Fahrtrichtung Eisemroth

Morgenröthe
Gemarkung Nanzenbach
Vortrieb im Bereich Schellenberg, Meerbachstannen und Eschenburg

 

Beide Gruben sind im Situationsriss der Grubenfelder um Haiger, Dillenburg, Nanzenbach, Oberscheld und Hartenrod vom Deutschen Bergbaumuseum Bochum aus dem Jahr 1906 zu finden. Die Karte ist im Digitalisierungsprojekt DigiPEER des Deutsches Museum München veröffentlicht (Hier klicken)

 karte gruben dbm 070010029201

 

 

Die Dokumente wurden nachfolgend von der Sütterlinschrift in die Deutsche Normalschift übersetzt (soweit möglich)

 

1845 Grubenbericht Eiserne Jungfrau OberscheldAn
Herzogliche Nassauische
Bergmeister Dillenburg
des Bergverwalters ??? zu Oberscheld

Den Betrieb der Eisensteingrube Eiserne Jungfrau bei Oberscheld vom 2. Quartal 1845 betrifft:

Herzoglicher Bergmeisterei empfehle ich nicht die Anzeige zu machen daß die ??? Zeche durch den vielen Wasserstand im Laufe des benannten Quartals außer Betrieb gestanden, soll aber im 3. wieder in Betrieb gesetzt werden.

Oberscheld, den 9. Juli 1845
Wohllöbliche Bergmeisterei
Ergebenster ???

 

 

 

 

 

 

 

1863 Grubenbericht Morgenröthe NanzenbachGrubenbetriebs Bericht
der Eisensteingrube
Morgenröthe bei Nanzenbach
3. Quartal 1863

Beschreibung der geschehenen Arbeiten

Herzogliche Bergmeister wird die Anzeige gemacht, daß die Grube in diesem Quartal außer Betrieb war.

Nanzenbach, 16. Oktober 1863
Bergmannsältester Gail

Dillenburg-Eibach. „Der Beginn der Abteufarbeiten fällt in die ersten und schwierigsten Nachkriegsjahre, als unser Bergbau mit den beiden Hochofenwerken von unserer Muttergesellschaft getrennt war. Da ich als der damalige Treuhänder auf mich allein gestellt war und keinen Aufsichtsrat hatte, konnte ich die Genehmigung zur Durchführung der Arbeiten nur von der Oberen Bergbehörde in Wiesbaden und der Amerikanischen Militärbehörde einholen. Sie wurde am 15.7.1947 von den Herren Berghauptmann Graf und Colonel Dieter erteilt.“

Mit diesen Worten blickt Wilhelm Witte gegen Ende des Jahres 1956 auf die wirren Zeiten zurück, in denen er schwierigste Entscheidungen zu treffen hatte. Der Schrägschacht der Grube Königszug war jetzt gerade fertig geworden - ein Novum nicht nur im heimischen, sondern im gesamten deutschen Bergbau.

Die Umstände im Jahre 1947: Der Krieg war gut zwei Jahre zuvor zu Ende gegangen. Die vier Besatzungsmächte hatten das Sagen im zerstörten Reich. Hessen gehörte zur amerikanischen Besatzungszone. Das Land hatte am 1. Dezember 1946 seine Verfassung verabschiedet, und in der wurde ausdrücklich betont, dass der Bergbau und die Schwerindustrie in Gemeineigentum übergehen sollten. Schließlich hatten gerade die Großindustriellen mit ihrer finanziellen Unterstützung dafür gesorgt, dass ein Adolf Hitler groß werden und große Teile der Welt ins Unglück stürzen sollte.

1947: Bis die Bundesrepublik gegründet werden sollte und die staatlichen Verhältnisse endlich wieder geordnet sein sollten, würde es noch einmal fast zwei ganze Jahre dauern.

Bei Buderus hatte Witte zuvor in Diensten gestanden, dem eisenverarbeitenden Konzern, der seine Wurzeln im Vogelsberg, im Taunus und an der Lahn hatte. Im Schelderwald, dem Zentrum des hessischen Eisenerzbergbaus, war der Name lange Zeit unbedeutend gewesen. Gerade mal eine Grube besaß Buderus hier, die er 1883 von dem Freiherrn von Wittgenstein erworben hatte: den „Friedrichszug“, nicht weit entfernt vom heutigen Nanzenbacher Sportplatz.

Das kehrte sich vor fast siebzig Jahren nahezu völlig um. 1933 übernahm Buderus die Zechen des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins mitsamt dem Oberschelder Hochofen, nachdem dieses Unternehmen ins Schlingern gekommen war. Nach schwierigen Verhandlungen konnte der Konzern vier Jahre später von der Preußischen Bergwerks- und Hütten-AG (Preußag) den „Königszug übernehmen - das Filetstück des heimischen Reviers. Als kurz danach noch die Grubenfelder der Sinner Neuhoffnungshütte und der Burger Eisenwerke erworben werden konnten, hatte Buderus binnen weniger Jahre sein Tätigkeitszentrum völlig verlagert: in das Dreieck zwischen Eibach, Nanzenbach und Oberscheld.

Weil freilich das Ende der Erzvorräte auf etlichen Gruben absehbar war, etwa auf „Amalie“, „Friedrichszug“ und „Auguststollen“, nahm die Bergverwaltung im Schelderwald systematische Probebohrungen vor, um die Vorräte bestehender Gruben zu erforschen und neue Lagerstätten zu erschließen. Ihre Ergebnisse waren eindeutig: der „Königszug“, der auf dem sogenannten „Eibacher Erz-Lagerzug“ abbaute, der vom „Laufenden Stein“ bei Dillenburg bis zur „Amalie“ bei Hirzenhain reichte, würde auch künftig das Abbau-Zentrum im Schelderwald bilden.

Dass das der alte Hauptschacht, der schon 1890 angesetzt worden war, in Zukunft nicht mehr alleine bewältigen konnte, darüber war sich schon die Preußag im Klaren gewesen. Mit Macht wurde dieser Mangel Buderus bewusst, als zwei Jahre nach dem „Königszug“-Erwerb der Krieg ausbrach. Zwar konnten die Förderkörbe noch 12.000 Tonnen Erz monatlich ans Tageslicht fördern, wenn in zwei Schichten gearbeitet wurde. Aber die zusätzlichen Nachtschichten reichten kaum noch für die Material- und Bergeförderung aus - geschweige denn für die Reparaturen, die natürlich auch immer wieder anfielen.

Die Lösung konnte nur in einer neuen Schachtanlage liegen. Darüber waren sich die verantwortlichen Buderus-Manager schon 1942 einig. Fünfzehntausend Tonnen Roherz sollte sie täglich bewältigen können, bei sieben Stunden reiner Förderzeit - das sahen die Pläne inmitten des Zweiten Weltkriegs vor. 1949 wurden sie nach unten korrigiert: Zwar sollte noch die gleiche Menge die Tiefen der Berge verlassen, aber dafür sollten jetzt zehn Stunden täglich zur Verfügung stehen.

Bei anderen Entscheidungen aber blieb man. Nicht mehr senkrecht - „seiger“, wie es in der Sprache des Bergmanns heißt - sondern schräg sollte der Schacht in die Tiefe führen. Mit einem Neigungswinkel von 67 Grad würde er sich dem Verlauf des Erzlagers anpassen.

Ihn bis zu fünfhundert Meter abzuteufen, war das nächste Ziel. Wenigstens die 700-Meter-Sohle zu erreichen, sollte zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. Hatten doch die geologischen Untersuchungen Erzvorräte selbst noch in neunhundert Meter Tiefe nachweisen können.

1947 wurden die Vorarbeiten für den Schrägschacht begonnen. Auch wenn es noch nie einen solchen im heimischen Bergbau gegeben hatte, so konnte man aus dem Bau von früheren senkrechten Schächten Nutzen ziehen. „Bei seigeren Schächten ist es erprobt, dass die Schachtröhre einfacher und billiger herzustellen ist, wenn man den geplanten Schacht unterfährt, im Schachtzentrum ein Überhauen schießet und dann das Überhauen von oben nach unten auf den vollen Querschnitt erweitert, als wenn man den ganzen Schacht abteuft“, blickte Ernst Wiederstein, der Betriebsführer des Königszugs, 1956 in der Extra-Ausgabe der „Berghütte“-Werkszeitung auf die ersten Arbeiten zum Schrägschacht zurück.

Diese führte zunächst ein beauftragtes Unternehmen durch. Das war vor allem damit beschäftigt, Querschläge und Strecken aus den vorhandenen Grubenbauen zum neuen Schacht anzulegen - und zwar so, dass sie auch dem späteren Grubenbetrieb dienen konnten. Nach der Währungsreform im Juni 1948 wurden die Arbeiten vorübergehend eingestellt, um nach einer kurzen Pause gegen Ende des Jahres mit eigenem Personal wieder aufgenommen zu werden.

Die meisten Arbeiten am Schrägschacht konnten überwiegend von unten nach oben durchgeführt werden. Der Vorteil dabei war, dass unter Ausnutzung der Schwerkraft das Haufwerk wesentlich leichter verladen werden konnte. Daneben fielen nur noch 125 Meter reine Abteufarbeiten an, von der Annastollensohle abwärts.

Mit der schwierigste Teil der Arbeiten an dem neuen Schacht mit dem schrägen 67-Grad-Winkel war der Einbau der Gleise, die künftig zur Führung des Förderkorbes dienen sollten. Schließlich waren auch dafür noch keine Vorbilder vorhanden!

Doch auch sie wurden gemeistert! „Im ganzen ist es uns aber gelungen, die Kosten der Arbeiten sehr niedrig zu halten. Die Gesamtkosten des Schrägschachtes bis zur 500-m-Sohle einschließlich Betonausbau aber ohne Schachteinbau haben 1355,- DM je Meter betragen“, bilanzierte Wiederstein in der Werkszeitschrift.

Der „Königszug“-Betriebsführer hatte auch andere Zahlen zusammengetragen: „Die Fertigstellung der gesamten Anlage, mit Strecke, Füllörtern, Maschinenraum, Brechanlagen, Füllstellen, Entladestelle und Bandstrecke, erforderte einen Sprengstoffverbrauch von 29.282,5 kg. An Bohrarbeit wurden 48.650 Bohrmeter geleistet und 39.100 Schüsse abgetan. 105.424 Wagen Berge und 30.144 Wagen Material sind auf den einzelnen Sohlen und zum großen Teil im alten Hauptschacht transportiert worden.“

Stolz sein konnten die Bergleute auf diese Meisterleistung. Die Montantechnik im Schelderwald hatte ihren Höhepunkt erreicht. Freilich hatte sie auch ihren Preis: Vier Todesopfer fordert der Bau dieser einen Anlage. Von der eigenen Belegschaft waren es Albrecht Klein aus Eibach sowie Oskar Arhelger und Heinrich Horch aus Nanzenbach, die verunglückten. Am vorletzten Tag des Jahres 1955 kam Gustav Hörentrup aus Herne um, ein Monteur, der bei der Essener Firma Funke & Huster beschäftigt gewesen war. Diese hohe Opferzahl war kein Zufall! Der Schachtbau zählt bis zum heutigen Tage zu den gefährlichsten Arbeiten der Männer unter Tage, die ohnehin zur Risiko-Gruppe Nummer eins gehören.

Für den unternehmerischen Wagemut ehrten die Bergverwaltung und die Belegschaft den Mann, der in schwierigen Zeiten zukunftsträchtige Entscheidungen getroffen hatte. „Zu Ihrem 60. Geburtstag haben wir beschlossen, dass dieser Schacht Witte-Schacht heißen soll“, teilten sie ihm am 7. November 1951 mit, gut vier Jahre bevor der Probebetrieb begann. Dessen Beginn fiel auf den 21. November 1955, den 400. Todestag des Vaters der modernen Bergbaukunde: Georg Agricola aus Sachsen.

Ein halbes Jahr liefen der alte Schacht und der Witte-Schacht nebeneinander. Ab Mai 1956 blieb der Witte-Schacht als einziger Hauptförderschacht des „Königszugs“ übrig.

Im Dezember des gleichen Jahres schrieb Jochen Dietrich von der Bergverwaltung: „Der Schacht leistet, was wir von ihm erwartet haben. Wir ziehen mühelos 70 t je Stunde von der 500-m-Sohle. Ebenso wurde das Ziel Arbeitskräfte einzusparen erreicht“ - ein Argument in den Jahren des Wirtschaftswunders, als in der Bundesrepublik „Arbeitslosigkeit“ fast zum Fremdwort wurde. Dietrich weiter: „Die Schachtbedienung besteht je Schicht noch aus einem Fördermaschinisten und einem Mann am Kreiselwipper gegen vorher vierzehn Mann je Schicht. Über Erwarten hat es sich gewährt, dass wir die Seilfahrtszeit gegenüber dem früheren Zustand wesentlich verringert haben. Andernfalls hätte uns die Arbeitszeitverkürzung sehr viel härter getroffen.“

Eschenburg-Eiershausen. „Das rhythmische Schlagen von Schlägel auf Eisen bzw. auf das harte Gestein und der dabei erzeuge helle Klang hat wohl manchen Bergmann zum Singen angeregt und hat ihn selbst zum Schöpfer von Liedern werden lassen, die seine Arbeit beschreiben“. So steht es in der kleinen Sammlung sächsischer Bergmannslieder, die zum 15. Bergstadtfest der Stadt Freiberg im Juni 2000 erschien.

Die Pflege bergmännischer Traditionen, vor allem der Aufmarsch der großen Bergparaden, gibt es dort im Erzgebirge seit Jahrhundert. Nicht annähernd so bedeutend war sie früher bei uns, obwohl unser Bergrevier bedeutend älter ist als das auf Höhenzug zwischen Sachsen und Böhmen. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde man sich dieser Vergangenheit auch in unserer Heimat bewusst.

„Lass‘ Schlägel klingen,
Bergreihen singen,
heißt ein alter Bergmannsspruch, und die Lust der Bergleute zum Singen war sprichwörtlich“, heißt es weiter in dem Liederbändchen – und das traf für die Knappen im Schelderwald durchaus zu!

Eine Bergkapelle gab es nachweislich vor rund einhundert Jahren am „Auguststollen“, vielleicht auch schon viel früher. Obersteiger Louis Manderbach aus Wissenbach leitete damals deren Übungsstunden nach Schichtende. Bei den „Wurstfesten“ auf Grube „Beilstein“, wie die Feiern schon vor dem 1. Weltkrieg hießen, traten die Musiker auf. Aber nicht nur dort: Auch in Wetzlar, Gladenbach, Dillenburg und Herborn präsentierten sich die Männer dem Publikum.

Die Sangestradition pflegte auch die Dillenburger Bergschule, deren Absolventen nicht nur im heimischen Revier, sondern in der ganzen Welt als ausgezeichnete Fachleute begehrt waren. „Jedes Semester hatte seinen Chor“, erinnert sich Otfried Schwarz an die Zeit, als er selbst zum Steiger ausgebildet wurde. Vor fast fünfzig Jahren war das. Aber der Mann aus Eiershausen gehörte nicht nur zu den Sängern. Im September 1955 textete er selbst ein Lied und komponierte auch die Melodie dazu:

Es tönt das Signal und der Förderkorb geht,
wir fahr’n in die ewige Nacht.
O strahl‘ gold’ne Sonne, die drüber steht,
noch einmal zu uns in den Schacht.
Lebt wohl grüne Wälder, mein Schatz lebe wohl,
tief unter der Erde erfüll’n wir das Soll.

Es wäre vielleicht in Vergessenheit geraden, gäbe es da nicht die Bergmannsfeste, die zwei Jahrzehnte nach dem Schließen der Gruben im Schelderwald wieder auflebten. 2002, bei einer dieser Zusammenkünfte am „Auguststollen“, stand es im Mittelpunkt.

Otfried Schwarz weiß noch genau, wie es damals entstand. Ein Praktikum am Westschacht der Grube „Königszug“ stand im September 1955 auf dem Lehrplan des Bergschülers. „Erz laden und bohren“, „Fördern“, „Rolle ausbessern“ - solche Notizen hielt er damals in dem Tagebuch fest, das er während seiner Ausbildung zum Steiger führen musste. Auf dem „Annastollen“ arbeitete er damals, ebenso auf der 80- und der 150-Meter-Sohle des Westschachts.

Die übrigen Strophen:
Bald sind wir vor Ort, wo der Bohrhammer knarrt,
da graben die Bergleut‘ das Erz.
Ist schwer auch die Arbeit, der Felsen hart,
versüßt sie ein zünftiger Scherz.
Es hält zwar der Berggeist die Schütze versteckt,
doch ruh’n wir nicht eher, bis all sie entdeckt.

Erschallet vom Schacht einst das Unglücksignal,
tief unten ein Kumpel blieb tot.
Und fordert der Berg seine Opferzahl,
bestimmt es der ewige Gott.
Grünt weiter ihr Wälder, mein Schatz lebe wohl,
wenn auch einst dein Bergmann nicht heimkehren soll.

Doch fahren wir ein, und wie immer auf’s neu
Erfüllen wir gern uns’re Pflicht.
Und bleiben der Heiligen Barbara treu,
als Bergleut‘, und fürchten uns nicht.
Bis uns dann das Seil zieht zur Sonne hinauf,
und froh wir uns trennen zum nächsten „Glück auf“!

Für einen Männerchor setzte das Lied damals übrigens Karl Hofmann, ein stadtbekannter Musiker aus Dillenburg.

Dillenburg-Nanzenbach. 1962 wurde die Nanzenbacher Eisenerzgrube „Neue Lust“ stillgelegt. Auch wenn es noch elf Jahre dauern sollte, bis auf dem „Falkenstein“ die letzte Förderschicht in unserer Heimat überhaupt gefahren werden sollte, so läutete das Ende der „Neuen Lust“ auch das Aus für eine Technologie ein, die über acht Jahrzehnte das Landschaftsbild des Schelderwaldes geprägt hatte. Unter der Überschrift „Abschied von der Drahtseilbahn“ blickte die Werkszeitschrift „Die Berghütte“ im März 1963 darauf zurück, denn die Maste und Seile dieses Transportmittels sollten jetzt abgebaut werden.

Lange waren es von Pferden gezogene Fuhrwerke gewesen, die das Erz zu den Hochöfen brachten. Die befanden sich im neunzehnten Jahrhundert alle recht weit entfernt von den Bergwerken. Die im oberen Dietzhölztal, zwischen Eibelshausen und Ewersbach, gehörten noch zu den näher gelegenen. Andere verhütteten die Eisenstein am Oberlauf der Lahn, die Ludwigs- und die Wilhelmshütte etwa.

Tagereisen waren da für die Fuhrleute oft angesagt, so wie heute für die Trucker, wenn sie mit ihren Lastzügen Frachten quer durch Mitteleuropa transportieren. „Die Fuhrwege liefen fast alle durch die anliegenden Ortschaften und beschädigten die seinerzeit noch nicht befestigten Straßen. Ältere Einwohner wissen noch zu berichten, dass die Wegewärter planmäßig große Steinbrocken auf die Fahrbahn legten, um so die Fuhrleute zu zwingen, von der eingefahrenen Spur abzuweichen“, blickte die „Berghütte“ auf diese Ära im vorletzten Jahrhundert zurück. Gerade mal vier Tonnen konnte ein solches Fuhrwerk laden; kein Gefährt also, das den technischen und wirtschaftlichen Anforderungen noch allzu lange gewachsen sein konnte.

Nachdem 1872 die Gleise der Eisenbahn in den Schelderwald verlegt worden waren, war vieles leichter geworden. Aber dennoch förderten viele Gruben weiterhin meist mehrere hundert Meter, wenn nicht gar einige Kilometer abseits der damaligen Endstation „Nikolausstellen“ den Bodenschatz zutage.

Genau acht Jahre später wurde ein neues Transportmittel erprobt: die Seilbahnen. 1880 wurde die erste im Scheldetal gebaut. 114 Meter war sie kurz und führte vom „Beilstein“ der damals modernsten Zeche unserer Region, zum Bahnhof „Wilhelmstollen“. „Eine Anzahl von Vorteilen“ bot sie, wie die „Berghütte“ feststellte: „Durch weitgehende Anpassung an alle Geländeverhältnisse in der Ebene und im Gebirge können ohne Schwierigkeiten freie Spannweiten über Täler und Flüsse überbrückt und Steigungen bis zu 45° überwunden werden. Der Betrieb einer Seilbahn ist auch unabhängig von der Jahreszeit, dem Klima und der Witterung. Nur bei einer gewissen Sturmstärke muss der Betrieb eingestellt werden. Zur Bedienung sind nur wenige Hilfskräfte erforderlich, und in vielen Fällen ist überhaupt keine Antriebskraft notwendig, ja sogar ein Kraftüberschuss vorhanden.“

Doch trotz dieser Einsichten setzten sich damals neue Technologien nicht annähernd so schnell durch wie heute. Erst 1901 folgte die immerhin schon 380 Meter lange Bahn zwischen der Grube „Königszug“ und dem Bahnhof „Nikolausstollen“. Die nächste, ab 1906 betriebene Seilbahn sollte zur längsten im Schelderwald: Vom „Stillingseisenzug führte sie bis zum Oberschelder Hochofen, der seit einem Jahr in Betrieb war.

Ab 1912 beförderten Seilkästen das Eisenerz von dem unweit des heutigen Nanzenbacher Fußballplatzes gelegenen „Friedrichszug“ zu einer Verladeanlage am Bahnhof Herrnberg, die die Firma Buderus dort errichtet hatte, von der noch die Schrauben der Seilbahnverankerung vorhanden sind. Über die Straße führte eine eigene Sicherungsbrücke. Ob sie vorrangig dem Schutz der darunter fahrenden Autos diente, oder ob Buderus damit bezwecken wollte, dass bloß kein herabfallender Erzklumpen von der Konkurrenz, dem Hessen-Nassauischen Hüttenverein verwertet werden konnte - darüber kann heute nur noch spekuliert werden.

1916 wurde die „Neuen Lust“ ebenfalls angebunden. Ein Jahr später wurden die Maste zwischen dieser Grube und der „Amalie“ bei Hirzenhain aufgestellt. Doppelter Druck machte diese Investition gerade jetzt, mitten im Ersten Weltkrieg, notwendig. Zum einen war das Eisenerz bei den Materialschlachten an der Westfront von kriegsentscheidender Bedeutung. Zum anderen waren hier Unmengen von Pferden im Einsatz - die als Zugtiere in der Heimat fehlten.

Als letzte Zeche erhielt 1920 der „Stillingseisenzug“ Seilbahnanschluss an die zentrale Aufbereitung am „Herrnberg“. Da begann schon längst wieder eine Flaute für den heimischen Bergbau. Aber der Erztransport in den Seilkästen hatte sich gegenüber dem in den Fuhrwerken als deutlich billiger erwiesen. So sollten sie fortan noch mehr als vier Jahrzehnte über den Wipfeln der Buchen, Eichen und Fichten des Schelderwaldes laufen.

Dass trotz strenger Verbote auch schon mal der ein oder andere Mitarbeiter im Seilkasten Platz nahm, um die Strecke nicht zu Fuß gehen zu müssen, gab dann auch die „Berghütte“ bei ihrem Rückblick zu. „Wir nehmen Abschied von der Drahtseilbahn, einem Transportmittel, das früher modern und wirtschaftlich war, heute aber bei unserer Firma der Vergangenheit angehört und aus unserem Blickfeld verschwunden ist“, schrieb die Zeitung.

Erinnerungen daran können wir heute noch finden: Die Masten, die halfen, ganze Täler und Höhen zu überwinden, ruhten auf soliden Sockeln. Diese Fundamente finden sich heute noch überall im Schelderwald.

Dillenburg-Oberscheld. Wann haben die Bergleute in unserer Heimat ihr erstes eigenes Fest gefeiert? Vermutlich sind die Bergfeste so alt wie der Bergbau selbst. So wie in der Neuzeit, so waren sie höchstwahrscheinlich schon in der Vorgeschichte verknüpft mit religiösen Riten.

Die Kelten, die vor über zwei Jahrtausenden an Dill und Dietzhölze nachweislich Eisenerz abbauten und verhütteten - werden sie nicht auch dafür ihre kultischen Opfer gebracht und gefeiert haben? Auf dass die Bodenschätze nicht ausblieben? Auf dass sie den Gefahren des Bergbaus immer wieder trotzen konnten? Auf dass der ihnen auch in Zukunft den Wohlstand sicherte, der deutlich besser war, als der ihrer Vorfahren?

Schriftliche Aufzeichnen darüber haben sie genau so wenig hinterlassen, wie die germanischen Stämme, die sich später zwischen Sieg, Dill und Lahn niederließen. Schon vor Jahrhunderten war der Heilige Abend der Arbeitstag, an dem die Bergleute früher als sonst das Dunkel der Erde verließen und das höchste christliche Fest mit einem Gottesdienst einleiteten. Hinzu kam der freie Fastnachtsdienstag, den die Knappen „mit gemeinsamen Kirchgang, deftigem Schmaus und fröhlichem Treiben begingen", wie der begnadete Heimatforscher Dr. Karl Löber herausfinden konnte. Und es gab den Barbara-Tag, zu ehren der Schutzpatronin der Bergleute, der offenbar noch lange nach der Reformation auch in unserer Region immer wieder begangen wurde.

Zumindest am Ende der nassauischen Herrschaft hatten die Knappen zudem ihren eigenen Sonntag im Sommer. „Dem Bergmanne nach seiner harten und schweren Arbeit auch einige Vergnügungen zu gewähren und ihm den Geist der Kameradschaftlichkeit und Einigkeit zu beleben und zu stärken", war sein Zweck, wie das heimische Kreisblatt in der 51. Ausgabe des Jahres 1868 bilanzierte.

Dass die neuen preußischen Landesherren, die Nassau nach dem zwei Jahre zuvor gewonnenen Krieg gegen Österreich annektiert hatten, diesen alten Brauchtum fortführen wollten, war der Anlass für den Rückblick der damaligen Lokalzeitung.

Ob es den Bergmannssonntag fortan jedes Jahr gab, wie der gute Vorsatz lautete, mag bezweifelt werde. Schließlich erlebten die heimischen Gruben im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert schwere Absatzkrisen. Fest steht, dass über Jahrzehnte nur die Bediensteten der staatlichen Betriebe in den Genuss des Festes kamen - und das waren damals der „Königszug" und der „Beilstein, die beide in dem Gemarkungsdreieck zwischen Eibach, Nanzenbach und Oberscheld abbauten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der „Beilstein" die fortschrittlichste der heimischen Zechen. Technische Neuerungen wurden zuerst hier eingeführt - von der ersten Grubenbahn 1848, die freilich noch im wahrsten Sinne des Wortes von Pferdestärken bewegt wurde, bis zur ersten Seilbahn, die das Erz ab 1880 zur Scheldetal-Eisenbahn beförderte.

Klar, dass das sommerliche Bergmannsfest im Jahre 1868 nur hier stattfinden konnte. Angeführt von Steigern und einer Kapelle marschierten mehrere hundert Knappen auf dem Festplatz ein. Berginspektor Kayser und Oberinspektor Samer hielten die Ansprachen, bevor sich die Besucher der Musik und dem Tanz, der Wurst und dem Bier hingeben konnten. So sollten die „Wurstfeste", wie sie bald im Volksmund hießen, auch in den Folgejahren aussehen.

Wenige Jahre danach, im jungen Kaiserreich, wurde der Termin in den Spätsommer verlegt, um die Bergfeste mit dem „Sedanstag" zu verknüpfen, der Erinnerung an die Schlacht bei diesem französischen Städtchen am 1. und 2. September 1870. Die Ironie der Geschichte: Gerade der siegreiche deutsch-französische Krieg machte den heimischen Gruben in den Jahrzehnten danach viel zu schaffen. Die hochwertigen lothringischen Erze, die sei 1871 in deutscher Hand waren, trugen erheblich zu den Absatzschwierigkeiten der heimischen Bodenschätze bei.

Wen wundert es da, dass Bergrat Fliegner beim Wurstfest von 1895 die Anwesenden auf dem „Beilstein" beschwören musste, „ihren guten Ruf zu bewahren und sich fernzuhalten von den sozialdemokratischen Bestrebungen, die viel versprechen, aber nichts zu halten vermöchten"?!

Indes: Mehr als diese pathetischen Worte werden damals Freibier und -zigarren, Wurst und Brot bei den Knappen und ihren Angehörigen dazu beitragen haben, dem Kaiser treu zur Seite zu stehen.

Dank anderer Verhüttungstechniken fanden die heimischen Erze nach der Jahrhundertwende neue Absatzwege. Ein bescheidener Wohlstand kehrte ein in den Dörfern ringst um den Schelderwald. Die Bergleute hatten wieder Grund zu feiern.

Doch diese Ära dauerte nicht lange. Auch wenn die Abbautonnagen in den Jahren nach 1914 noch weiter klettern sollten, gab es nichts mehr zu feiern, als die Kollegen, die gestern noch mit in Berg einfuhren, in den Schützengräben irgendwo zwischen Verdun und der Champagne verbluteten.

Auch nicht mehr in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg. Denn die deutschen Hochöfen bezogen ihre Erze jetzt irgendwo aus dem Ausland, wo sie weit kostengünstiger abgebaut werden konnten. Viele von den Männern aus den Schelderwald-Dörfern, die ihren Kopf für den Kaiser hingehalten hatten, waren schon lange arbeitslos, als man woanders in Deutschland von den „Goldenen Zwanzigern" sprach.

Gefeiert wurde erst wieder in der Nazi-Zeit. Dass die Bergfeste für die Hitler-Schergen ein Teil ihres Programms war, die Knappen ideologisch auf den nächsten Weltkrieg vorzubereiten - wer wollte das schon wahr haben, als es endlich wieder Arbeit gab?

Noch einmal sollte es eine Nachkriegszeit für die Schelderwaldgruben geben. Noch einmal ging es für einige von ihnen deutlich aufwärts. Vor allem für den „Königszug", die größte Grube, die jemals in Hessen in Betrieb war. Technisch wurde sie auf Vordermann gebracht.

So wie ein Jahrhundert zuvor auf der Nobelzeche „Beilstein", so war das Gelände am Ostschacht den „Königszugs" in den 50er und 60er Jahren der Ort für die „Wurstfeste". Das Seilziehen zwischen Steigern und Hauern wurde zu einem ihrer Programmpunkte, die Tradition bekommen sollten.

Schon bevor die letzte Förderschicht auf dem „Königzug" im Jahre 1968 gefahren wurde, schliefen die Feste der Bergleute ein. Erst zwanzig Jahre später lebten sie wieder auf. Seitdem finden sie wieder alle zwei Jahre auf dem Gelände der einstigen Grube „Auguststollen" statt. Von denen, die noch das Arbeitsleben unter Tage kennengelernt haben, sind nicht mehr viele übrig geblieben. Aber diese finden sich gerne an diesem Tage ein.

 

Eine Galerie mit Bildern vom Bergmannsfest 2014 finden Sie hier: Bergmannsfest 2014 - Galerie

 

Dillenburg-Nanzenbach. Ein fast vergessenes Kapitel aus der heimischen Geschichte ist die Zeit, als sich eine englische Gesellschaft im frühen neunzehnten Jahrhundert in den Nanzenbacher Kupferbergbau einkaufte. Nach 1800 hatten die Briten überall auf dem Kontinent begonnen, Kapital zu investieren. Sie waren damals führend in der Montan-Technologie und hatten deswegen die Nase vorne, als hemmende Zunftschranken und Zollbarrieren fiel. Vertreter dieser Nation waren es denn auch, die als erste eine Dampfmaschine hier zu Lande in Betrieb nahmen - importiert aus ihrem Heimatland jenseits des Kanals.

kupfergrube-neuer-muthAber der Reihe nach. Mankur hieß der Direktor, den 1835 eine englische Sozietät mit der Mission in das nassauische Land schickte, Zechen zu erwerben. Er schlug wahrhaftig zu: Vierundzwanzig riss er sich gleich unter den Nagel. Welche aus Ewersbach, Langenaubach, Niederroßbach, Herbornseelbach, Hirzenhain und Frohnhausen waren dabei. Aber genau die Hälfte lag auf Nanzenbacher Gemarkung, darunter die Filetstücke: Neben den Gruben „Gemeine Zeche" und „Neuer Muth" auch die „Hilfe Gottes". Für diese drei musste mehr als die Hälfte des Kaufpreises von 22.000 Florin hingeblättert werden.

Erst nach zwei Jahrzehnten, die schließlich mit Misserfolgen endeten, trennte sich die Gesellschaft wieder von dem Besitz. Doch brachte er zunächst eine gute Ausbeute, und so zeigten die neuen Eigentümer eine hohe Investitionsbereitschaft. Ein Nanzenbacher namens Johann Jost Horch war von diesen Neuerungen offenbar so fasziniert, dass er akribisch Tagebuch über die Ereignisse führte. Seine Aufzeichnungen sind noch vorhanden, so dass wir manches Geschehen im Detail nachvollziehen können.

Nachdem Mankur die Zechen gekauft hatte, wurde er durch einen anderen Direktor namens Patrik abgelöst. Von der „Neuen Muth" erwartete er die meiste Ausbeute. Er ließ einen neuen Schacht anlegen, auf den eine Rossmaschine gesetzt wurde - eine Förderanlage also, die von Pferden in Bewegung gehalten wurde, und die sowohl das Gestein heraufbefördern als auch das Grundwasser abpumpen sollte.

Je tiefer die Engländer in die Erde eindrangen, desto schwieriger wurde die Wasserhaltung. So entschloss sich Patrik schließlich, eine Dampfmaschine aus seinem Mutterland kommen zu lassen, die die Rossmaschine ersetzen sollte.

Im November 1844 kam sie in Dillenburg an. Zuguterletzt gab es hier noch ein Problem: 26 Pferde mussten vorgespannt werden, um den Kessel die steile Dillenburger „Hohl" hinaufzuziehen. Erfolglos! Erst als am nächsten Tag ein Flaschenzug installiert wurde und rund hundert Männer mit anpackten, wurde die Steigung bewältigt. Dass es solche Schwierigkeiten bereits vorher auf dem langen Landweg gegeben haben muss, kann man ahnen. Schließlich hatte die Eisenbahn das Land noch längst nicht erschlossen.

Als der Transport am Ziel ankam, fanden sich mehrere hundert neugierige Zuschauer ein. Nicht nur aus Nanzenbach, auch in den Dörfern der Umgebung hatte sich dieses Ereignis herumgesprochen. Wenige Meter vor der Grube „Neuer Muth" blieb das Gespann auf dem Felde stehen. Warum auch immer - erst einmal blieb der Kessel monatelang auf den Äckern liegen, bevor er in Betrieb ging.

Es war ein vierter Direktor namens Linon, der dieses Werk vollendete. Mit ihm löste die englische Muttergesellschaft den Nachfolger des 1842 erkrankten Patrik, Seymour, wegen der vielen von ihm gemachten Schulden ab. Ob Seymour leichtsinnig gewesen war oder ob nur die Gesellschaftseigner auf der fernen britischen Insel seine Geschäfte nicht nachvollziehen konnten? Investitionen hatte er schließlich nicht nur in die Dampfmaschine getätigt. Er hatte auch auf der „Alten Wiese", etwa dort, so heute die Gymnastikhalle und das Gemeinschaftshaus stehen, eine Aufbereitungsanlage für die Kupfererze bauen lassen.

Ungeachtet ihrer technischen und finanziellen Schwierigkeiten brachten die Briten viele Änderungen in das bis dahin beschauliche Leben des Dorfes am Rande des Schelderwaldes. Sechzehn englische Bergleute arbeiteten 1840 in Nanzenbach, daneben ein Maurermeister, ein Maschinist und ein Schmied. Viele von ihnen hatten ihre Familienangehörigen mitgebracht: insgesamt zehn Frauen und neunzehn Kinder.

Außer den Fachleuten vom fernen Vaterland boten die Briten auch vielen Einheimischen Arbeit. Neben etlichen Nanzenbachern, für die „Gemeine Zeche" und „Neuer Muth" kaum mehr als ein Steinwurf entfernt waren, nahmen Männer aus den Nachbardörfern den Weg zu diesen Gruben auf sich. Aus Eibach, Sechshelden, Manderbach, Frohnhausen, Wissenbach, Eibelshausen, Eiershausen, Steinbrücken, Hirzenhain und Tringenstein kamen sie. Selbst für einige Dillenburger gab es hier offenbar bessere Verdienstmöglichkeiten als in den Häusern unter Schlossruine.

Obwohl die Löhne für sie nicht annähernd so hoch waren wie für die englischen Fachkräfte, waren für einige schlaue Nanzenbacher noch Gewinnspannen drin: Sie mieteten sich Knechte, die sie für sich in den Stollen der Briten arbeiten ließen. Achtzehn aus den Dörfern der Umgebung waren es im Jahre 1843, davon alleine sieben aus Mandeln.

Das Wort Umweltschäden kannte man damals noch nicht - aber die fremden Grubenbesitzer verursachten sie! Bei ihren Arbeiten brachten sie den Grundwasserhaushalt des Bergmannsdorfes ganz schön durcheinander. Der Tiefbau ließ einige Brunnen im Dorf trocken fallen. Um einen Ausgleich zu schaffen, legten die Engländer eine Wasserleitung von „Storkborn", wo sich auch heute noch das örtliche Wasserwerk befindet, ins Dorf. Sie bestand aus gußeisernen Rohren und dürfte wohl die erste Wasserleitung in Nanzenbach, wenn nicht in unserer Heimat schlechthin gewesen sein.

Natürlich ging auch das Wirken unter ausländischer Regie nicht ohne Unglücke vonstatten. Am 11. März 1841 ließ ein Frohnhäuser Knappe auf der „Neuen Muth" sein Leben. Ein knappes Jahr später, am 4. Januar 1842 folgte ihm ein Wissenbacher in den Tod, der auf „Gemeinen Zeche" beschäftigt war.

Kommen wir nun zu den technischen Schwierigkeiten zurück. Ein Problem für das Betreiben der Dampfmaschine war die Energieversorgung. Braunkohle fand dafür Verwendung, wahrscheinlich wurde sie vom Westerwald bezogen. Der Ankauf der Kohlen mitsamt dem Fuhrlohn für den weiten Transportweg war recht kostspielig.

1849, als Direktor Lindon seine Stelle niederlegte und die Nanzenbacher Kupfergrubenbetriebe mit seinem Nachfolger Hackett ihren fünften und letzten Chef bekamen, stand die Dampfmaschine öfter still, was die Schwierigkeiten mit dem Grubenwasser vergrößerte. 1851 wurde sie noch einmal in Betrieb genommen, aber die Tage der Engländer in Nanzenbach waren fortan gezählt.

1854 trennten sie sich von dem Besitz auf dem Kontinent. Ihre Nachfolger, erst ein Franzose und dann zwei Deutsche, blieb ebenso der wirtschaftliche Erfolg versagt. Eine vorübergehende Scheinblüte hatte die Zeche „Neuer Muth", deren Halden noch heute das Bild der oberen Gewannstraße prägen, viele Jahrzehnte später, als die Nazis im Rahmen ihrer Kriegspläne auch die Kupfererzbetriebe subventionierten, weil sie einen wichtigen Rohstoff für ihre Waffenschmieden lieferten. Mit den 40er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts kam dann der Kupferabbau in Nanzenbach endgültig zum Erliegen.

Dillenburg-Nanzenbach (ul). So sehr, wie der Bergbau das Leben der Menschen in und am Schelderwald geprägt hat, so wenig gab es eine geradlinige Erfolgsgeschichte dieses Wirtschaftszweiges. Er hatte manches Tief wegzustecken, durch die allgemeinen Konjunkturdellen, aber ebenso durch die Konkurrenz der ausländischen Erze, wenn die dem heimischen Markt uneingeschränkt zur Verfügung standen. Waren sie doch von besserer Qualität und konnten zugleich unter deutlich günstigeren Bedingungen abgebaut werden.
Aber für die Bergleute gab es noch ganz andere Schicksalsschläge, die sie zu verkraften hatten. In den Jahren um 1500 war es die Pest, die viele von ihnen dahin raffte, und die ganze Gruben auf Jahrzehnte zum Erliegen brachte. Ein flächendeckendes Aus brachte der Dreißigjährige Krieg mit sich. Es sollte ein halbes Jahrhundert dauern, bis sich der heimische Bergbau davon halbwegs erholt hatte.
Auch wenn die Eisenverhüttung in unserer Heimat zwei Jahrtausende alt war, geriet jetzt ein anderes Erz in den Mittelpunkt: Im Nanzenbachtal blühte die Kupferindustrie auf.
1482 war hier erstmals eine Kupferhütte in Betrieb genommen worden, vermutlich an der gleichen Stelle, an der fast zweieinhalb Jahrhunderte später, im Jahre 1728, die Isabellenhütte neu gegründet wurde - ein Betrieb, der heute noch als wichtiger Arbeitgeber in Dillenburg nicht wegzudenken ist.
Nicht nur in deren Anfängen blieb die Zahl der Arbeitsplätze in der Hütte bescheiden: Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein waren hier gerade mal drei Männer beschäftigt. Dennoch war ihre wirtschaftliche Bedeutung nicht gering: Das Kupfer wurde nach Frankfurt, Köln, Iserlohn, Stolberg und Nürnberg geliefert.
Das benötigte Erz wurde gut fünf Kilometer talaufwärts tief im Berg gewonnen. „Neuer Muth", „Gemeine Zeche", „Altelohrbach" und „Neuelohrbach", so lauteten die Namen der größten Gruben, die allesamt nicht weit vom Nanzenbacher Dorfrand in Betrieb waren. Hinzu kam ein rundes Dutzend kleinerer Zechen - insgesamt eine Ansammlung von florierenden Betrieben, die das Dörfchen zum Mittelpunkt des Kupferbergbaus von ganz Nassau werden ließen.
In diesen Gruben, deren tiefster Schacht immerhin schon stolze 150 Meter war und deren Stollen bis zu 400 Meter lang waren, waren freilich deutlich mehr Männer beschäftigt.

Ungemein arbeitsintensiv war auch der Transport zur Hütte. Neben den Erzen musste auch der Energieträger herangekarrt werden, und das war damals ausschließlich die Holzkohle. Um hundert Zentner Erz zu verhütten, wurden fast sechzig Fuhren Holzkohlen benötigt - und diese wollten auch erst einmal erzeugt sein, in den Kohlemeilern, die bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts überall in unserer Heimat schwelten.

Die Landwirtschaft stand damals noch im Mittelpunkt des Broterwerbs unserer Vorfahren. Gar mancher Bauer konnte sich aber so ein ordentliches Zubrot als Bergmann, als Fuhrmann oder als Köhler verdienen.

Als Johann Philipp Becher 1789 seine „Mineralogische Beschreibung der Oranien-Nassauischen Lande" veröffentlichte, das für die kommenden Jahrzehnte das Grundlagenwerk für die heimischen Bergleute bilden sollte, widmete er den Nanzenbacher Kupferminen breiten Raum. Der Bergbau auf Eisenerz wenige Kilometer weiter im Schelderwald spielte aus seiner Sicht damals nur eine bescheine Rolle. Das dieser gut hundert Jahre später florieren würde, mit großen Zechen, die zusammen eine vierstellige Zahl von Knappen unter Tage beschäftigen sollten, ahnte selbst dieser Gelehrte vor über zweihundert Jahren nicht annähernd.

Die besagten Kupfergruben sollten noch eine wechselvolle Geschichte erleben. Mit zu den interessantesten Kapiteln gehörte die Zeit, als diese von einer englischen Gesellschaft erworben wurden, und damit nicht nur etliche Briten, sondern auch die moderne Technik in Form einer Dampfmaschine in dieses kleine Dörfchen einziehen sollten. Sie blieben von 1835 bis 1854 in Nanzenbach aktiv (darüber mehr in einem der nächsten Beiträge).

Die Engländer verkauften ihren Besitz dann an einen Franzosen namens Renoc, der schon nach zwei Jahren aufgab. Genau so wenig Furore machten dessen Nachfolger, ein Freiherr von Oevel aus Dortmund und ein Justizrat namens Lesemann aus München. Die Gruben kamen bald zum Erliegen.

Dass die Nazis in den 1940er Jahren die Grube „Neuer Muth" noch einmal in Betrieb nahmen, war nur ein kurzes Nachspiel dieser Epoche. Vor militärstrategischem, aber keinesfalls vor wirtschaftlichen Hintergrund war dieser Versuch zu sehen, noch einmal an das kriegswichtige Kupfererz im eigenen Lande heranzukommen.

Es sollte mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis der Nanzenbacher Heimatverein per Pachtvertrag mit dem Dillenburger Rathaus den Zugriff auf das Mundloch eines Stollens bekam, der einst bis zum Schacht der „Neuen Muth" führte. Mit viel Mühen, aber auch mit großzügiger Unterstützung durch die Stadt und durch die EAM, ist die Mannschaft um Dietmar Reeh seit Monaten dabei, ein Denkmal für den Kupferbergbau in unserer Heimat zu errichten. Direkt gegenüber des Dorfgemeinschaftshauses wird es künftig sicherlich auch zur Werbung für unsere Region beitragen.

Dillenburg-Oberscheld. Schon seit Jahren stehen drei Windmühlen am nördlichen Ende des Schelderwaldes, bei Hirzenhain. Im letzten Jahr kamen drei weitere dieser Anlagen hinzu, die auf sanfte Art Strom produzieren. Zwischen Oberscheld und Tringenstein wurden sie errichtet, am Rande der ehemaligen Mülldeponie. So umweltfreundlich die Stromproduktion ist - eine Bereicherung für die Landschaft sind die riesigen Propeller nicht, die von fast allen Erhebungen des Schelderwaldes zu sehen sind. So werden sie auch sicher nie unumstritten sein.

Umwelt- und Landschaftsschutz, das waren noch keine Themen, als zum ersten Mal in dieser Region Strom produziert wurde. Fast hundert Jahre ist das inzwischen her. Die Parallele zu heute: Auch damals entstand die elektrische Energie sozusagen aus einem Abfallprodukt, und wäre aus heutiger Sicht durchaus als ökologisch sinnvoll zu bezeichnen.

1905 war am Ortsrand von Oberscheld ein Hochofen angeblasen worden, der dem „Hessen-Nassauischen Hüttenverein" gebaut worden war. Das Jung'sche Familienunternehmen, das seinen Sitz im oberen Dietzhölztal hatte, war aus ökonomischen Gründen in hohem Maße daran interessiert, alle Fortschritte der Technik für ihre Betriebe zu nutzen. Die Betriebe, das waren neben etlichen Eisenerzgruben im Schelderwald auch einige Hütten in der weiteren Umgebung. Deren Hochöfen waren freilich in den Jahrzehnten zuvor erloschen. Denn mit Holzkohle als Energieträger waren diese befeuert worden, eine Technologie, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schließlich überholt war.

Schon gegen 1880 waren bei Frankfurt erste erfolgreiche Versuche mit Hochspannungsleitungen durchgeführt worden. Was lag für die Jungs da näher, als auch die Bergwerke der Umgebung mit Strom zu versorgen? Denn die Grundlage für die Produktion elektrischer Energie hatte der Hessen-Nassauische Hüttenverein jetzt mit seinem neuen Hochofen geschaffen. Bei dessen Betrieb fielen nämlich Gichtgase an, die man nutzbringend zu diesem Zwecke verwenden konnte. So wurde im August 1906 eine Stromerzeugungsanlage in Betrieb genommen, die erste im Dillkreis überhaupt. Sie hatte eine Leistung von 130 kW bei einer Erzeugerspannung von 500 Volt.

Von nun an schritt die Elektrifizierung zügig voran. Zunächst urden Kabel zu den Gruben gelegt. Die Spannung musste dafür von 500 auf 5000 Volt umgespannt werden.

Dafür musste Gelände der Oberschelder Gemarkung benutzt werden. Deswegen wurde dieser Gemeinde im Gegenzug vom Hüttenverein gestattet, ihre Haushaltungen an das Netz anzuschließen. Die Oberschelder waren damit die ersten Dillkreisler, die in den Genuss dieses technischen Fortschritts kamen. Ein Jahr später wurde ein 5000-Volt-Kabel zur Schelder Hütte gelegt. Gleichzeitig wurde die Gemeinde Niederscheld mit angeschlossen.

Bis 1909 wurden die Stromerzeugungsanlagen am Hochofen ausgebaut. Jetzt waren es vier Generatoren, die immerhin schon 1100 kW produzierten. Das Netz konnte somit ausgeweitet werden, zur Burger Hütte und zu den beiden Städten Herborn und Dillenburg.

Diese Ausweitung machte eine Änderung in der Betriebsverwaltung notwendig. Die bis dahin beim Hochofenwerk liegende Veraltung wurde 1910 einer neu gegründeten „Verkehrs-zentrale" mit Sitz in Dillenburg übertragen. Im selben Jahr begann man mit dem Bau von Überlandleitungen - den ersten Deutschlands - , die mit einer Übertragungsspannung von 22000 Volt betrieben wurden. Die Versorgung der Werke des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins war dabei immer die vorrangige Motivation. Eher nebenbei wurden die berührten Gemeinden mit angeschlossen.

Die erste Leitung ging von Oberscheld über Nanzenbach, Wissenbach, Eibelshausen und Ewersbach zur Neuhütte. Von Eibelshausen wurde sie ins Hinterland weitergeführt, zur Breidenbacher-, Amalien-, Ludwigs- und zur Wilhelmshütte. Gleichzeitig war mit dem Bau einer anderen Freileitung von Oberscheld über Endbach, Weidenhausen, Kehlnhausen und Holzhausen zur Wilhelmshütte begonnen worden. Eine Ringleitung war somit entstanden, die im Jahre 1911 geschlossen werden konnte.

In den folgenden Jahren gab es noch mehrere betriebswirtschaftliche Umstrukturierungen. Durch den 1. Weltkrieg ging es nicht mehr ganz so schnell vorwärts. Jedoch konnten auch in dieser schlechten Zeit die Stromverteilungsanlagen noch ausgebaut werden. 1926 schließlich kam die Stadt Haiger ans Netz.

Freilich stießen jetzt die Schalt- und Umspannanlagen am Hochofen an ihre Grenzen. In den beiden folgenden Jahren wurde an der Straße von Oberscheld nach Niederscheld ein Hauptumspannwerk errichtet, das 1928 für die „Hessen-Nassauische Überlandzentrale", wie sie jetzt genannt wurde, den Betrieb aufnahm. Schon in den drei Jahren vorher waren unter der Verwaltung derselben Gesellschaft die Wasserkräfte im Rehbachtal genutzt worden, die Stromversorgung auch im südwestlichen Teil des Dillkreises aufzubauen.

Nach dem 2. Weltkrieg konnten die bestehenden Anlagen der Nachfrage, die vor allem durch das Wachsen der heimischen Industrie rapide anstieg, nicht mehr lange gerecht werden. Deswegen wurde 1948 das Umspannwerk Oberscheld durch eine Freiluft-Umspannanlage für eine Betriebsspannung von 110 000 Volt erweitert und über eine zwanzig Kilometer lange Überlandleitung in Wetzlar an das Verbundnetz der „Preußenelektra angeschlossen. Später wurde sie zu einer 110-kV-Doppelleitung ausgebaut und als Ringleitung vom nordhessischen Kraftwerk Borken über Waldeck-Frankenberg-Friedensdorf-Oberscheld-Wetzlar bis nach Gießen geführt.

Das Umspannwerk in Oberscheld arbeitet auch heute noch, schon seit langem im Besitz der EAM. Eigener Strom wird allerdings schon lange nicht mehr hier produziert, denn der Hochofen wurde bekanntlich 1968 abgeblasen. Dass der neuerdings ein paar Kilometer weiter von den Windmühlen wieder hergestellt wird - steht das nicht in der Tradition einer Region und ihrer Bewohner, die es schon seit jeher gut verstanden, die Bodenschätze und die Kräfte der Natur für sich nutzbar zu machen?

Siegbach-Tringenstein. Nein, wie 66 Jahre alt sieht er nicht aus. Eher würde man ihn für einen Mitfünfziger halten, der sich mit täglichen Joggingrunden trimmt. So vermutet auch kaum jemand, dass ausgerechnet er noch viel darüber erzählen kann, wie es war: das Leben der Bergleute im Schelderwald. Und doch: Dieter Heimann hat es noch über zwei Jahrzehnte selbst mit erlebt. Das, zusammen mit der zweiten Hälfte seines beruflichen Lebens, die er im Dillenburger Stahlwerk verbrachte, war nicht untypisch: Sein Werdegang spiegelt den Strukturwandel der heimischen Wirtschaft wider.

Gerade vierzehn war er geworden, als er im September 1949 die Volksschule von Tringenstein hinter sich gelassen hatte, in dem Dorf, in dem er geboren und aufgewachsen war. Berufliche Alternativen, gar etwa die weiterführende Handelsschule? Darüber brauchte er nicht nachzudenken. Sein Vater war mit zerschossenem Arm aus dem Krieg zurückgekommen. Da hieß es für das älteste von sechs Kindern: möglichst bald etwas zum Familienunterhalt beizutragen.

Also: in die Grube! Damit war der neue Lebensabschnitt des jungen Tringensteiners eingeleitet, genau so wie für weitere drei der insgesamt fünf Jungen, die gemeinsam acht Jahre auf den harten Schulbänken gesessen hatten.

In der Zimmerbude auf „Königszug", bei den dort Beschäftigten auch einfach die Holzbude genannt, begann für Dieter Heimann die Ausbildung. Grubenholz für unter Tage herrichten, also das Holz schälen, passend zimmern und dann tränken, das war eine seiner ersten Aufgaben, wie er heute noch weiß. Ungefähr im Vierteljahresrhythmus folgten die anderen Stationen: die Schreinerei am „Königszug", dann die Aufbereitungen der gleichen Zeche, die am „Herrnberg" und die am „Auguststollen". Auch wenn der Zweck der Anlagen alle der gleiche war, nämlich das gewonnene Erz vom tauben Gestein zu befreien, so arbeiteten sie jeweils nach einem anderen Verfahren.

Mit sechzehn hätte er nach dem Gesetz erstmals unter Tage arbeiten dürfen. Aber es kam anders für den Tringensteiner. Mit seiner Berufschulklasse besuchte er den Übertagebetrieb am „Auguststollen". „Befahren", sagt Dieter Heimann, der heute noch die Sprache der Bergleute benutzt. Und nach der „fährt" der Bergmann in die Grube - egal, ob er zu Fuß geht, am Seil hängt oder gar über gefährliche Leitern in die Tiefe klettert.

Die Dampflokomotiven, die die Abraumwagen schleppten, und die Benzolloks, die die Erzwagen über die Gleisen mit der schmalen Spurweite zogen, sowie der große Dampfbagger dort faszinierten ihn. Also meldete er sich freiwillig für den Betrieb auf dem Höhenzug, der das Schelde- vom Siegbachtal trennt. Hier sollte er sein zweites und sein drittes Lehrjahr verbringen, ohne dabei auch nur einmal unter Tage eingesetzt zu werden. Das blieb auch nach seiner Ausbildung so, bis zur Stillegung des Tagebaus im Jahre 1956.

Wie die anderen jungen Männer wurde er dann im „Ludwigstollen" eingesetzt, nur wenige Meter unterhalb der Tagebausohle. „Wir schafften unmittelbar unter den Wurzeln im ‚Alten Mann'", erinnert er sich mit einem Schmunzeln an diese Zeit. „Alter Mann" - das ist der Begriff des Bergmannes für einen Abbau, den schon die Vorfahren angelegt hatten.

Die nächste Arbeitsplatzveränderung kam zwei Jahre später - recht unvermittelt!
„Pack' dein Bündelchen und geh zum ‚Falkenstein'," sagte ihm ein Steiger, als er gerade zur Mittagschicht angetreten war. In dem neuen Bergwerk, das ein Jahr später seine Produktion aufnehmen würde, musste er einen ausgefallenen Mann ersetzen, bei dem Bau des neuen Schachtes. „Beim Abteufen", sagt der Tringensteiner - wieder ein Wort aus dem Vokabular der Bergleute. „Teufe", das steht für die Tiefe, in die der meist senkrechte Schacht führt.

Zwei Monate dauerte sein Einsatz beim „Berge laufen", wie der Knappe sagt, wenn er Abraum fahren muss. Im Handbetrieb schob Heimann die Grubenwagen von der Schachthalle zur Bergehalde.

Gelegentlich, wenn einer aus der Abteufmannschaft fehlte, musste er mit in den Schacht - eine völlig neue Erfahrung für den damals 23jährigen Mann, und wahrlich keine einfache! Arbeiten im Schacht gehören seit jeher zu den gefährlichsten unter Tage. Doch der am „Falkenstein" wurde fertig, ohne dass es zu einem schweren Unfall kam.

Aber: Täglich siebeneinhalb Stunden unter härtesten Bedingungen arbeiteten sie. Permanent im Nassen standen sie. Wasser, welches sich von oben aus dem Gebirge durch die Betonröhre drückte und sich im Schachtausbau gleichmäßig verteilte, ging auf dessen Sohle als starker Dauerregen nieder. Wasserdichte Kleidung und große Hüte, wie man sie sonst nur von Hochseefischern kennt, waren für die Männer erforderlich. „Aber schon nach zwei, drei Wochen wurden die Nähte undicht, und die Feuchtigkeit drang ein", beschreibt Heimann diese Unannehmlichkeiten.

Schließlich folgte das Abteufen eines 370 Meter tiefen Wetterschachtes. Ausschließlich der „Bewetterung", der Zufuhr von Frischluft unter Tage, sollte er dienen.

„Währenddessen war vom Hauptschacht eine Richtstrecke zum Lager aufgefahren worden, und Lastkraftwagen brachten die ersten Erze, die bei den Aus- und Verrichtungsarbeiten gewonnen werden konnten, zum ‚Königszug'." Dieter Heimann kann sich daran und an viele andere Ereignisse in der Chronologie der modernsten Grube, die jemals im Schelderwald abbaute, gut erinnern - auch dann, wenn sie ihn nicht unmittelbar selbst betrafen.

Die ersten regulären Abbauarbeiten begannen. In der neuen Zeche war der Einsatz von Schrappern gut möglich, deren baggerartige Schaufeln über verankerte Seilrollen bedient wurden. Nicht nur diese Geräte sorgten für Abbauergebnisse, die man bis dahin in diesem Revier nicht kannte. „Eine Tonne Erz pro Mann und pro Schicht waren Anfang der fünfziger Jahre auf dem ‚Königszug' die Regel. Auf ‚Falkenstein' schafften wir zehn Jahre später bis zu sieben Tonnen." Auch solche Zahlen hat Heimann im Kopf.

1966 passierte es dann, nachdem er trotz mancher gefährlichen Arbeit tief im Berginnern Glück gehabt hatte: Beim „Beräumen der Firste", wie der Bergmann zu dem Bereinigen der Decke über ihm sagt, wenn er lose Gesteinsbrocken mit der Keilhause oder dem Brecheisen herunterholt. Eine Last, eine größere Felsplatte, stürzte herab und begrub ihn bis zur Hüfte. Der Kollege, der bei ihm war, konnte ihn nicht alleine befreien und musste erst einmal Hilfe holen. „Bricht da noch etwas ab?", das war die Angst der Verschütteten. Es dauerte zwar nur fünfzehn Minuten bis zu seiner Rettung, aber es war die bangste Viertelstunde in seinem Leben.

Sein Glück im Unglück: Die Verletzungen beschränkten sich auf Prellungen, Verstauchungen und Hautabschürfungen. Nach zwei Wochen im Krankenhaus war er wieder auf den Beinen.

So fortschrittlich, wie der junge Betrieb war, so mehrten sich doch die Zeichen für dessen Ende, nachdem 1968 die letzte Schicht auf „Königszug" gefahren worden war - der größten Zeche, die es jemals in Hessen gegeben hatte. Obwohl der „Falkenstein" gerade mal erst seit zehn Jahren Erze förderte, so konnte auch er nicht mehr lange gegen die internationale Konkurrenz stand halten.

Waren zunächst noch Bergleute vom „Königszug" übernommen worden, so begann schon bald auch hier der systematische Abbau der Belegschaftszahlen. 1971, als man sie um zwanzig Leute verringern wollte, bot die Betriebsleitung eine kleine Abfindung an, bei einer Kündigung im beiderseitigen Einverständnis. Dieter Heimann war einer von denen, die zuschlugen. Gerade mal zwei Jahre später kam dann das endgültige Aus für den Eisenerzbergbau im Schelderwald. Den Rest seiner alten Kollegen traf nun das gleiche Schicksal.

Der Übergang in die zweite Hälfte des Berufslebens verlief für den Tringensteiner reibungslos. 1959 war am Stadtrand von Dillenburg die Produktion von Edelstählen aufgenommen worden. Damals prangte das Firmenlogo „Südwestfalen" am weithin sichtbaren Turm der Blankglühanlage, über dem Zweigwerk eines Konzerns, der seine übrigen Produktionsanlagen in eben dem südwestlichen Zipfel des benachbarten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen hatte.

Diese Ansiedlung war auch ein Ergebnis weitsichtiger Planungen der damaligen Dillenburger Stadtväter gewesen. Denn als die Entscheidung dafür getroffen wurde, herrschte in der jungen Bundesrepublik Deutschland Aufbruchstimmung. Das Wirtschaftswunder, das einen bis dahin nie gekannten Anstieg des Wohlstandes auch für die kleinen Leute gebracht hatte, prägte das Denken der fünfziger Jahre.

Aber als Dieter Heimann sich hier um seinen neuen Job bewarb, hatte das zuvor zwanzig Jahre währende Wachstum einen ersten Einbruch erfahren. „Arbeitslosigkeit" war nach der Konjunkturkrise von 1966/67 auch in der Bundesrepublik kein Fremdwort mehr.

Dennoch: Er kam gleich unter, genau wie viele andere seiner alten Kollegen aus den sterbenden Gruben. „Bergleute wurden mit Kusshand genommen. Sie waren als zuverlässig und fleißig bekannt." Dass der einstige Berufsstolz nicht verloren gegangen ist, daran lässt er mit diesen Worten auch heute keinen Zweifel.

Nicht nur das Stahlwerk, das zeitweise beinahe tausend Arbeitsplätze bot, profitierte von ihnen. Im Straßenbau, im übrigen Metallgewerbe, das das Wirtschaftsleben der Dillregion seit jeher prägt, aber auch in den öffentlichen Verwaltungen waren sie gern gesehen.

Heimann starte als Handsortierer und als Coil-Verpacker in dem neuen zukunftsträchtigen Betrieb. Bei den Männern, die die Edelstahlplatten und die aufgerollten Bleche versandfertig machten, blieb er vier Jahre. Dann wechselte er in die Arbeitsvorbereitung und damit auch in den Angestelltenbereich. Für den Mann, der als junger Bursche einmal gelernt hatte, Eisenerz von unnützem Nebengestein zu trennen, war zuletzt die Arbeit am Monitor selbstverständlich.

Ziemlich genau zwanzig Jahre später wiederholte sich etwas, was er 1971 auf dem „Falkenstein" erlebt hatte. Auch sein zweiter Arbeitgeber musste Arbeitsplätze abbauen. Ein zweites Mal nahm Heimann das Angebot an, sich in beiderseitigem Einverständnis zu trennen. Es war sein endgültiger Abschied aus dem Berufsleben, sein Schritt in den Vorruhestand, am 30. September 1991.

Er ging als Stahlwerker, aber in seinen Gedanken hatte er freilich nie Abschied von dem Bergmannsleben genommen. Dafür sorgten seine Hobbys, die ihren Anfang nahmen, als er noch unter Tage arbeitete. „Am Falkenstein herrschte ein kluftreiches Gebirge vor, wie man es sonst nicht kannte im Scheldebergbau", blickt Dieter Heimann zurück. Ärger beim Bohren brachten diese Hohlräume mit sich, aber dennoch schwärmt er: „Sie waren gefüllt mit herrlichen Kristallen."

Um 1964 muss es wohl gewesen sein, als ein Hobby begann, sein Berufsleben zu begleiten. Es waren die Sammler von wer-weiß-woher, die scharf auf die Falkenstein-Mineralien waren, und die ihn dafür sensibel werden ließen, was er sozusagen nebenbei tief im Berg drinnen fand. Fünf Jahre später trat er dem „Verein für Mineralogie und Geologie" bei.

Dass da längst das Interesse von Sammlern auch an denjenigen Werkzeugen geweckt war, mit denen er noch alltäglich zu tun hatte, konnte ihm dabei nicht entgehen. „Aus dem Siegerland kamen sie herüber, wo der Bergbau schon zu Ende war. Bei uns wollten sie allerlei kaufen", erinnert er sich. Nicht nur die glitzernden Steine sammelte er also fortan. Das „Gezähe", wie der Tringensteiner auch heute noch das Werkzeug bezeichnet, was die Knappen bei ihrer Arbeit benutzten, kam hinzu.

Den Höhepunkt seines Hobbylebens erlebte er im Jahre 1990, als die „Münchener Mineralientage" , die größte Fachmesse stattfand. „Calcite - Bausteine des Lebens", so lautete das Thema einer Sonderausstellung im Rahmen dieser Zusammenkunft. Deren Organisator, Dr. Werner Liebherr, war lange auf der Suche nach Exponaten gewesen - und schließlich durch Weitersagen bei Dieter Heimann fündig geworden.

Der Siegbacher Mineralien-Fan stellte ihm dafür seine hübschesten Fundstücke zur Verfügung. Zum Dank lud ihn der Heidelberger Wissenschaftler mitsamt Ehefrau nach München ein. Heimann: „Zwischen den Vitrinen des britischen und des österreichischen Nationalmuseums stand die mit der Aufschrift: ‚Dieter Heimann, Tringenstein'." Kann ein privates Hobby noch mehr an Würdigung erfahren?! Ein anderes Danke-schön hat bleibenden Wert: eine Sonderausfertigung eines Buches das Liebherr anlässlich dieser Ausstellung veröffentlichte und das der Autor extra für seinen Helfer aus dem Lahn-Dill-Kreis in Leder binden ließ.

Bis dahin hatte seine Sammlung ihren Platz unter dem Dachgeschoss seines Hauses in Tringenstein. Als die erste Enkelin geboren wurde, musste sie freilich weichen. Im Wohnzimmer und im Flur haben die Vitrinen heute ihren Platz gefunden.

Dass sie für das Publikum in den nächsten Jahren zugänglich sein sollen, ist seine Vision. Er weiß wo: „Im alten Rathaus werden wir Räume bekommen." „Wir" - damit meint er den jungen örtlichen Heimatverein, den er im Jahre 1993 mit gegründet hatte und in dessen Vorstand er Kassierer geworden war. Die Tringensteiner profitierten fortan von einem weiteren Talent dieses Mannes. Hölzerne Schilder fertigte er an, die seitdem den Wanderern in seiner heimatlichen Gemarkung und den Besuchern auf dem örtlichen Burgberg die Orientierung erleichtern. „Über zwanzig sind es mittlerweile", zählt er sie zusammen.

Der Mann, der bei seinem Eintritt ins Berufsleben noch nicht annähernd geahnt hatte, welche Rolle ein Gerät namens Computer einmal an seinem Arbeitsplatz spielen würde, hat sich der Traditionen seines Heimatdorfes besonnen. Sie so zu bewahren, wie es Dieter Heimann und seine Mitstreiter tun, bedeutet ein Stück Lebensqualität mehr für alle, die hier wohnen.

Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Epoche raschen technologischen Wandels in der Eisenverhüttung. Zwei Gründe waren dafür maßgeblich.

Der erste Grund: Die Engländer, seit der Erfindung der Dampfmaschine ohnehin führend in der Montanindustrie, hatten ihre Hochöfen in den Jahrzehnten zuvor fast komplett vom Holzkohlen- auf den Koksbetrieb umgestellt und arbeiteten damit deutlich wirtschaftlicher. Jetzt machte sich die neue Technologisch auch rasch auf dem Kontinent breit.

Das Ruhrgebiet, wo das schwarze Gold aus der Erde geholt wurde, war auf dem Weg zum Standort Nummer Eins für die Eisenhütten. Da nach wie vor gegenüber dem Rohstoff Eisenerz ein Mehrfaches an Transportkapazitäten für den Energieträger Kohle gebraucht wurde, war es in der Regel deutlich billiger, den Eisenstein zur Kohle zu bringen – und nicht umgekehrt.

Der zweite Grund: Ebenfalls von England ausgehend, eroberte die Eisenbahn als neues Verkehrsmittel Europa. 1835 fuhr der erste deutsche Zug zwischen Nürnberg und Fürth. Danach wurde Deutschland binnen weniger Jahrzehnte von einem Netz an Linien überzogen, das wie geschaffen für den Transport von Massengütern war. Nachdem bis dahin Pferde- und Ochsenfuhrwerke oft mühselige Tagesreisen von den Gruben zur den Erzschmelzen zu bewältigen hatten, war es auf einmal kein Problem mehr, in der gleichen Zeit ein Vielfaches per Lokomotive auch über zwei-, dreihundert Kilometer weit zu befördern.

Was die meisten heimischen Hütten- und Bergleute noch nicht erkannten: Das rüttelte an den Grundlagen des heimischen Montanwesens. Dass sie 1857 gemeinsam den gesamten Aktienbesitz der Laaspher Ludwigshütte erwarben, war aber der Grund für die „Bank für Handel und Industrie für Darmstadt" und für die „Mitteldeutsche Creditbank zu Meiningen", die Lage gründlich zu analysieren.

Dass der Wirtschaftsstandort Lahn-Dill-Bergland mit seinen traditionellen Holzkohle-Hochöfen in hohem Maße gefährdet sei, war ihre Schlussfolgerung. Den gesamten Grubenbesitz der einheimischen Hütten in einer Hand zu vereinigen, die Zahl der Hochöfen zu verringern, diese dafür größer zu bauen, deren Energieträger auf Koks umzustellen und die übrigen Standorte in reine Weiterverarbeitsbetriebe umzustrukturieren – all das gehörte zu Empfehlungen der Bankiers aus Darmstadt und Meiningen.

Es kam tatsächlich so, wie sie anregten, auch wenn der Prozess acht Jahrzehnte dauern sollte; bis dahin sollten freilich die heimischen Hütten und Gruben immer wieder in Existenzkrisen geraten.

Doch zurück in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Es gab ja schon ein bedeutsames regionales Unternehmen, das schon mehrere Eisenhütten, im oberen Dietzhölztal und im Biedenkopfer Raum, und viele Grubenfelder, vor allem im Schelderwald, sein eigen nennen konnte. Wenn zwar längst nicht das einzige, so hatte die von Johann Jakob Jung gegründete Firma, deren Ursprünge auf das Jahr 1816 zurückgehen, sich zum wichtigsten im heimischen Montanwesen entwickelt.

Doch in den Jahrzehnten nach dessen Tod schien es oft eher, dass sich das für damalige Verhältnisse schon beträchtliche „Imperium" zersplitterte anstatt seine ökonomische und technische Schlagkraft auszubauen. Erst 1883 zogen Jungs Erben die Konsequenz und gründeten eine Aktiengesellschaft unter dem Namen „Hessen-Nassauischer Hüttenverein", die die Betriebe wieder unter einem Dach, mit einer Direktion und einem Aufsichtsrat, zusammenführte. 2,1 Millionen Mark betrug das Aktienkapital. Das wurde in jeweils dreihundert Aktien à tausend Mark an die sieben Stämme der Familie Jung aufgeteilt (1, S. 303).

Als 1892 das „Gesetz, betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung" erschien, und das für das Familienunternehmen Vorteile bot, wurde die AG in eine GmbH umgewandelt.

Zum Handeln war es da höchste Zeit. Denn 1862 hatte die Deutz-Gießener Eisenbahn Dillenburg an die weite Welt angeschlossen. Zehn Jahre später wurde die erste von hier abzweigende Stichbahn, die in den Schelderwald, in Betrieb genommen, 1892 dann die zweite, die nach Ewersbach führte. In den Jahren dazwischen, 1883, wurde die Linie von Marburg nach Laasphe eröffnet, die die Ludwigs- und die Amalienhütte anschloss.

Wie prophezeit, hielten die heimischen Holzkohle-Hochöfen dem überregionalen Konkurrenzdruck nur noch kurze Zeit Stand. Nach und nach erloschen sie. Der letzte war der von Eibelshausen im Jahre 1898.

War ein Stück Wirtschaftsgeschichte, das schon vor fast zweieinhalbtausend Jahren im Lahn-Dill-Bergland begonnen hatte, an seinem Ende angelangt. Nicht diese Frage, sondern eine ganz andere Sorge drückte die Manager des „Hessen-Nassauischen Hüttenvereins". Sie hatten jetzt das Problem, das ein für sie bis dahin äußerst sinnvoller Produktionsablauf unterbrochen worden war.

Zum einen hatten sich ihre Produkte aus Eisenguß gerade in den Jahren zuvor überaus erfolgreich auf dem Markt breit gemacht. Zum anderen hatten sie mittlerweile einen ausgedehnten Grubenbesitz, vor allem im Schelderwald. Ihnen blieb also jetzt nichts mehr anderes übrig, als die gesamten geförderten Erze auf dem freien Markt anzubieten – ebenso wie sie das Roheisen hier zu beziehen hatten. Damit waren sie dem konjunkturellen Auf und Ab mit all seinen Preisschwankungen beim Ver- und beim Einkaufen unterworfen – mit vielerlei negativen Folgen für die eigenen Betriebsabläufe!

hochofenbau 31937 blickten die Autoren der Firmengeschichte von Buderus, des Unternehmens also, das kurz zuvor den gesamten Besitz des „Hessen-Nassauischen Hüttenvereins" übernommen hatte, auf die Gründe zurück, die schließlich zum Bau der modernen Anlage in Oberscheld führte (1, S. 321): „Bei einem Gießereiunternehmen, in dem die Erzeugung von Gußwaren aller Art eine beachtliche Größe erreicht hatte, das über eine eigene, für die Herstellung von Roheisen völlig ausreichende Erzgrundlage verfügte und in dem schließlich die Zeit der Roheisenselbstversorgung noch immer lebendig war, wurden derartige Unzuträglichkeiten in der Beschaffung des wichtigsten Rohstoffs mit ihrer jeglichem geschäftlichem Planen abträglichen Unsicherheit besonders stark empfunden. Von hier bis zu dem Entschluss, selbst wieder zu der Erzeugung von Roheisen, und zwar auf der neuzeitlichen Grundlage des Kokshochofens, überzugehen, war kein allzu weiter weg, zumal sich der Finanzierung dieses Planes keine unüberwindlichen Schwierigkeiten entgegenstellten.

Bei den Überlegungen spielte auch die Tatsache eine nicht unbedeutende Rolle, daß mit dem Übergang zur Eigenverhüttung der Bergwerksbesitz des Hüttenvereins einer besseren wirtschaftlichen Verwertung zugeführt werden konnte angesichts des Umstandes, dass auch dieser von den Schwankungen des Marktes durch das Hochofenwerk als Dauerabnehmer befreit werden konnte.

Das Hochofenwerk bot außerdem den Vorteil, daß nunmehr die geringprozentigen und fast unverkäuflichen Erzsorten mit wirtschaftlichem Erfolg verhüttet werden konnten, zu denen insbesondere der wenig transportfähige aber für den dünnwandigen Guß des Vereins bestens geeignete Flußeisenstein des Scheldegebietes (kalkhaltiger Roteisenstein) gehörte. Diese günstigen Rückwirkungen auf den Bergbau trugen ihrerseits dazu bei, den Entschluss beim Bau eines eigenen Kokshochofenwerks in die Tat umzusetzen."

Den neuen Hochofen direkt bei den eigenen Gießereien oder bei den Bergwerken zu errichten, diese Frage stellten sich die Investoren damals auch. Doch sie zu beantworten war nicht schwer. Schließlich lagen die eisenverarbeitenden Betriebe zu weiter verstreut. Eine direkte Eisenbahnverbindung vom Schelderwald zu denen an der oberen Lahn gab es ohnehin noch nicht. Nach wie vor endete die 1872 gebaute Scheldebahn als Stichbahn am „Nikolausstollen". Der Kokshochofen wurde „auf Erz" gebaut, dicht bei den wichtigsten Grubenfeldern des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins, und direkt an der Bahn, die 1911 endlich ins Hinterland verlängert werden sollte – womit auch die dortige Versorgung der Gießereien mit Roheisen erheblich erleichtert werden sollte.

„Das Visier heruntergekippt, blicken die Männer in das Auge des Vulkans. Vor ihnen ergießt sich wie Lava ein Sturzbach flüssigen Eisens aus dem Stahlpanzer des Hochofens. Es lodert dabei, züngelt, gleißt, qualmt und zischt, ehe sich die wabernde Masse als glühendes Reptil durch eine Sandrinne schlängelt und schließlich fauchend in eine gigantische Pfanne kippt." Mit diesen anschaulichen Worten schilderte der Journalist Jürgen Schreiber am 24. Oktober 1981 für die Frankfurter Rundschau die Arbeit am Wetzlarer Hochofen. Der Anlass für diese Reportage: Sein Erkalten für immer stand in diesem Herbst unmittelbar bevor.

Das Ende einer Technologie, die sich über wenigstens zweitausend Jahre entwickelt hatte, war damit im Lahn-Dill-Kreis eingeläutet. Gut dreizehn Jahre vorher hätte Schreiber die von ihm beschriebene Szenerie dreißig Kilometer nördlich von diesem Standort auch noch vorfinden können. Im Oberschelder Hochofen wurde seit 1905 fast pausenlos das in der unmittelbaren Nachbarschaft geförderte Eisenerz geschmolzen, bis er im Frühjahr 1968 endgültig erlosch und niedergelegt wurde.

In den gut sechs Jahrzehnten dazwischen hatte mit der Oberschelder Anlage diese uralte Technologie, die sich im Lahn-Dill-Bergland über die Jahrhunderte stetig weiter entwickelt hatte, ihren Höhepunkt erreicht. Sie war das Bindeglied zwischen dem Bergbau und den vielen Fabriken, in denen das Eisen zu Zwischen- und oft genug auch zu Endprodukten weiterverarbeitet wurde. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg waren in den Gruben, am Hochofen und in der eisenverarbeitenden Industrie Zehntausende von Menschen beschäftigt. Das Wirtschaftsleben unserer Region war damit nahezu restlos dominiert. Alle anderen Branchen fielen in den Wirtschaftsstatistiken jener Jahrzehnte unter die Rubrik „ferner liefen".

Dabei war die Tradition der Eisenverhüttung im Land zwischen der Dill und der oberen Lahn schon einmal niedergegangen, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Zur vorletzten Jahrhundertwende war sie völlig zum Erliegen gekommen. Hätte damals nicht unternehmerische Weitsicht zum Bau des Oberschelder Hochofens geführt, hätte sie vielleicht damals schon ihr vorzeitiges Ende gefunden.

Seit dem Ende des Mittelalters hatte das Schmelzen des Erzes wichtige technologische Fortschritte erfahren. Immer größer waren die Öfen geworden, die die Hüttenleute mit Eisenerz und mit Holzkohle bestückten, um unter großer Hitze das wichtige Eisen zu erzeugen. Das hatten sie vor allem der Tatsache zu verdanken, dass sie gelernt hatten, mehr Sauerstoff zuzuführen. Waren die Waldschmiede in der Frühgeschichte, aber noch bis weit ins Mittelalter hinein, auf die Luftbewegungen an den Hängen angewiesen, setzten die Hüttenleute später große Blasebälge ein, die über Wasserräder angetrieben wurden. So änderten sich auch langsam die Standorte: von den waldbestandenen Hängen unserer Mittelgebirge, die den Waldschmieden ihren Namen gaben, hinunter zu den Bachläufen an den tiefsten Punkten der Täler.

Was über all die vielen Jahrhunderte gleich geblieben war, war der Energieträger: Holzkohle, die von den Köhlern überall in den heimischen Wäldern in den Meilern hergestellt wurde. Doch mit dem Jahre 1862, als die Eisenbahn Dillenburg an die große weite Welt anschloss, war schlagartig für die heimische Eisenindustrie alles anders geworden. War es auf der einen Seite von Vorteil, dass man nun mit dem Verkehrsmittel die heimischen Erze auch an die fern gelegenen Hütten verkaufen konnte, so wurden die holzkohlebetriebenen Hochöfen unserer Heimat jetzt dem Wettbewerb mit denjenigen ausgesetzt, die mit einem neuen Energieträger arbeiteten: dem Koks, der aus der Steinkohle des Ruhrgebietes gewonnen wurde.

Das machte den heimischen Hütten, die zum Teil seit Jahrhunderten auf den gleichen Standorten den begehrten Rohstoff hergestellt hatten, nach und nach den Garaus. 1898 wurden in Eibelshausen und in Burg die letzten „hohen Öfen" ausgeblasen, die noch mit Holzkohle befeuert wurden, die die Köhler in einem mühseligen Prozess, zuletzt meist am Rande der Hauberge an den Oberläufen von Dill und Dietzhölze, herstellten.

Probleme schuf dies vor allem für ein Unternehmen, das sich bis dahin im Montan- und Hüttenwesen zu dem bedeutendsten im Land an der Dill entwickelt hatte, dem Hessen-Nassauischen Hüttenverein. Seither war der Produktionsablauf in diesem Unternehmen ein lückenlos geschlossener gewesen: von dem Eisenerzbergbau über die Verhüttung bis zur Eisenverarbeitung. Das Familienunternehmen baute weiterhin Erze ab, überwiegend in seinen Gruben im Schelderwald, aber musste es jetzt ausschließlich an fremde Hütten verkaufen. Andererseits mussten die Erben dieses Johann Jakob Jung, der sich im Jahre 1847 im oberen Dietzhölztal selbständig gemacht hatte, jetzt ihr Roheisen auf dem Markt beziehen, um es in ihren Betrieben zu den verschiedenen Produkten weiter verarbeiten zu können.

Erst mehr als ein halbes Dutzend Jahre später wurde diese Lücke wieder geschlossen, nämlich mit dem Anblasen des Oberschelder Hochofens. Die über zweitausend Jahre alte Tradition der Eisenverhüttung, die um 1900 fast schon ihr vorzeitiges Ende gefunden hätte, sollte noch einmal für mehr als sechs Jahrzehnte fortbestehen - und mit der neuen „Hütte" zu ihrem technologischen Höhepunkt kommen.

 

Kelten waren die ersten Hüttenleute im Lahn-Dill-Bergland

Doch der Reihe nach. Gehen wir auf die allerersten Anfänge des Eisenerzabbaus und seiner -verhüttung zurück, die in unserer Heimat mindestens drei, vier Jahrhunderte vor Christi Geburt zu suchen sind, und die sich in den technischen Grundzügen bis zum späten Mittelalter kaum ändern sollten.

Waffen und Werkzeuge wurden im Lahn-Dill-Bergland schon vor weit mehr als zweitausend Jahren hergestellt, von einer damals hier siedelnden Bevölkerung, die die Historiker mittlerweile einvernehmlich den Kelten zuordnen. Man weiß dies aus Bodenfunden von den prähistorischen Höhensiedlungen „Heunstein" (auf dem Höhenzug zwischen der Dillenburger Kernstadt und den Stadtteilen Frohnhausen und Nanzenbach gelegen) und der „Burg" (in der Nähe des Dietzhölztaler Ortsteils Rittershausen), wo man die eisernen Geräte bei wissenschaftlichen Grabungen entdeckte.

Wenn auch die daraus zu ziehenden Rückschlüsse noch nicht unbedingt ein rundes Bild abgeben, so lassen sich doch die Anfänge der Eisenproduktion im Lahn-Dill-Bergland (und mit ihm wohl im benachbarten Siegerland) rekonstruieren. Diese werden wohl so ausgesehen haben: Die allerersten Männer, die dieses Können beherrschten, waren im Hauptberuf Landwirte, die, wenn ihnen Ackerbau und Viehzucht - je nach Saison - die Zeit dazu ließen, das an die Erdoberfläche tretende Erz abbauten, um es anschließend in kleinen, kaum mannshohen Öfen unter Hinzufügung von Holzkohlen zu erhitzen und in pures Eisen umzuwandeln.

Noch längst nicht wurden damals genügend hohe Temperaturen erzeugt, die, wie zuletzt in den Hochöfen, das Eisen als flüssigen Stoff herausfließen ließen. Bei Temperaturen, die deutlich unter 1000° Celsius lagen, wurde nur eine zähflüssige Masse, die „Luppe" erzeugt. Immer noch mit unerwünschten Begleitstoffen versehen, musste diese unter hohen Temperaturen weiter geschmiedet werden, um den erwünschten Rohstoff für harte Geräte und Waffen zu gewinnen.

Selbst um die noch vergleichsweise bescheidenen Temperaturen von sieben- bis achthundert Grad Celsius zu erreichen, mussten die „Rennöfen", wie die alten Eisenerzschmelzen genannt wurden, an Hängen aufgebaut werden. Denn hier konnte man die, je nach Jahreszeit, aufsteigenden oder abfallenden Winde nutzbar machen, um für eine nach damaligen Maßstäben optimale Sauerstoffzufuhr zu sorgen. Es sollte noch viele Jahrhunderte dauern, bis man es verstand, diese durch hand- oder fußangetriebene Blasebälge deutlich zu verbessern.

Das zweite unverzichtbare Standortkriterium: In der Umgebung musste genügend Holz vorhanden sein. In Kohlenmeilern wurde dieser Energieträger „veredelt", denn die bei purer Holzverbrennung erzeugten Temperaturen waren nicht annähernd für die Eisenverhüttung ausreichend. Das war viel wichtiger als die Nähe zu den Rohstoffquellen, denn die Menge der zugesetzten Holzkohle war um ein vielfaches höher als die des Erzes. Deswegen war es schon zu vorgeschichtlicher Zeit wesentlich einfacher, den Eisenstein zur Holzkohle zu transportieren als umgekehrt!

Der dritte Standortfaktor: In der Nähe musste Wasser sein. Warum? Das weiß man bis heute noch nicht genau. Vielleicht einfach nur zur Trinkwasserversorgung der frühgeschichtlichen Hüttenmänner, die sich tagelang weit abseits der Siedlungen aufhielten, oder vielleicht auch aus Feuerschutzgründen.

 

Vagabundierende Hüttenmänner

Wenn eine größere Waldfläche für Holzverkohlen gerodet worden war, zogen die Männer einfach weiter, Denn ihre einfachen, aus lehmartiger Masse gemauerten Rennöfen waren sowieso (zumindest in den Anfangszeiten) nur ein einziges Mal zu gebrauchen und mussten dann wieder neu konstruiert werden.

Die ersten dieser Anlagen müssen nah bei den Bodenschätzen gelegen haben, also wohl im Schelderwald, dem Zentrum der hessischen Eisenerzlager, wo der rotgraue Stein an vielen Stellen bis an die Erdoberfläche reicht („beißt", wie der Bergmann sagt) und folglich ohne größere Probleme auch im Tagebau leicht zu gewinnen war.

Für die vor über zweitausend Jahren produzierten Waffen und Werkzeuge aus Eisen müssen die Bäume der unmittelbaren Umgebung als Energielieferanten gereicht haben. Schließ war die Produktmenge noch nicht so groß, als dass es zu großflächigen Kahlschlägen kommen musste, die das Bild unserer Landschaft in der Neuzeit bestimmen sollten - bevor in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts das neue Verkehrsmittel Eisenbahn den Ruhrkoks als Energiequelle für die heimischen Hüttenleute verfügbar machte.

Auch wenn sie logischerweise vorhanden sein müssen, in dem einst überregional bedeutsamen Rohstoffzentrum zwischen Eisemroth und Nanzenbach, zwischen Hirzenhain und Oberscheld, hat man solche Bodenfunde als Zeugnisse aus der Zeit vor Christi Geburt trotz mittlerweile vielfältiger Bemühungen der Wissenschaftler noch nicht entdeckt.

Betrachten wir den weiteren Fortgang der Geschichte. Obwohl die genannte keltische Bevölkerungsgruppe manchem Nachbarvolk technologisch überlegen war, konnte sie sich doch irgendwann dem Ansturm der aus dem Norden herandringenden Germanen nicht mehr erwehren. Wenn diese auch die vorherigen Siedler überrannten, völlig vernichtet haben sie die Verlierer wohl nicht. Teile der Völkergruppen werden verschmolzen sein, auf diese zwischenmenschliche Weise, die bis in die heutigen Tage hinein immer wieder Sieger und Besiegte zusammen finden lässt.

Nicht nur neue (Lebens-)Partner finden die Menschen dabei; mit ihnen kommen sie auch zu neuen Erkenntnissen - und so werden die germanischen Chatten, die Hessen besiedelten, die Rennofentechnik von den vorherigen Siedlern übernommen haben.

Freilich: Erkenntnisse über wesentliche Entwicklungen in dieser Epoche fehlen noch völlig. Erste schriftliche Überlieferungen gibt es aus der Zeit um 800 nach Christi Geburt. Selbst die sind nicht solcher Art, dass sie uns gründliche Aufschlüsse über Entwicklung unserer Wirtschaftsgeschichte der Vor- und Frühgeschichte geben können.

 

Das obere Dietzhölztal als Verhüttungszentrum

Fest steht aber, dass Eisenerzabbau und -verhüttung allmählich auseinander drifteten - sowohl menschlich als auch räumlich. Die Hüttenmänner waren irgendwann nicht mehr die gleichen, die als Bergleute das Erz abgruben. Ebenso bildete sich als eigene Berufsgruppe die der Köhler heraus, die für die Bereitstellung der Energie zuständig waren, und die der Fuhrleute, die dafür sorgten, dass Erz und Holzkohle wieder zusammen kamen.

Was sie bis in die Neuzeit hinein gemeinsam hatten: Fast alle dieser Männer betrieben zunächst einmal Landwirtschaft, zur Grundversorgung für sich und ihre Familien. Frauen und Kinder mussten dabei mitwirken, und so war dafür gesorgt, dass auch in Zeiten wirtschaftlicher Krisen wenigstens das karge Überleben gesichert war. Erst wenn es die Zeit zuließ, gingen sie der anderen Beschäftigung nach: als Berg- oder Hüttenmann, als Köhler oder als Fuhrmann.

Das räumliche Zentrum der Eisenverhüttung verlagerte sich vom Schelderwald in das obere Dietzhölztal. Warum? Absolut schlüssige Ergebnisse kann uns die Wissenschaft noch nicht vorlegen. Holzknappheit nahe bei den Gruben? Ja, vielleicht. Aber vielleicht waren es auch politische Gründe. Etwa der: Die Landesherren verboten infolge vorsorglicher Gedanken um den Fortbestand des Waldes dessen Abholzen, was ein gutes Dutzend Meilen weiter immer noch erlaubt werden konnte. Oder hatte sich hier einfach die Haubergswirtschaft, diese eigentümliche Form der Forstpflege, die es nur in unserer Heimat gab schon so weit entwickelt, dass hier einfach auf wirtschaftlichere Art für den Energieträger gesorgt werden konnte? Oder gab es noch einen ganz anderen Grund - etwa den, dass für die Ummantelung der Rennöfen bestimmte Materialen gebraucht wurden, die nicht überall vorhanden waren?

Da es, wie schon erwähnt, schriftliche Überlieferungen aus dieser frühen Epoche so gut wie nicht gibt, müssen sich die Historiker nahezu ausschließlich auf die Ergebnisse der Bodenarchäologie verlassen.

Deswegen kehren wir an dieser Stelle in die Gegenwart zurück. Denn erst im letzten Jahrzehnt hat man mit systematischen Ausgrabungen mit der Erforschung jener Branche begonnen, die als zwangsläufig notwendige Ergänzung des Erzbergbaus über mehr als zwei Jahrtausende das Wirtschaftsleben unserer Region bestimmte.

 

Ausgrabungen liefern neue Erkenntnisse

Unter der Leitung von Professor Albrecht Jockenhövel und Dr. Christian Wilms forschte ein Team über mehrere Jahre im oberen Dietzhölztal und in einigen benachbarten Gemarkungen. Alte Schlackenplätze wurden lokalisiert und aufgelistet. Daran schlossen oftmals Ausgrabungen mit der gründlichen Untersuchungen der historischen Hüttenplätze an. Finanziert wurde das Projekt von der Volkswagen-Stiftung. Unterstützung erhielten die Münsteraner Wissenschaftler von einem tschechischen Expertenteam und ebenso - keinesfalls in ihrer Bedeutung zu unterschätzen - von heimischen Hobbyhistorikern.

Im Sommer 1993, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der über zweitausend Jahre dauernden Eisenhüttenära in unserer Heimat, endete das Ausgrabungsprojekt vorerst. Über 200 Schlackenplätze waren zuguterletzt ausfindig gemacht worden, von denen nur ein kleiner Teil näher untersucht werden konnte. Nach den historisch schon bekannten Zusammenhängen musste der räumliche Schwerpunkt im Dietzhölztal liegen. Alleine in der Wissenbacher Gemarkung konnten zwanzig Rennofen-Reste ausgemacht werden.

Trotz der vielen Ergebnisse gab es ein negatives Resultat der mehrjährigen Forschungen: Die frühgeschichtliche, die keltische Zeit der Erzverwertung blieb nach wie vor im Dunkeln, trotz vielfältiger Bemühungen. Dennoch schrieb Christian Wilms bereits vor zehn Jahren, im Heimatjahrbuch von 1994: „Was bleibt da noch für die älteren Zeiten übrig? Wir gehen nach wie vor davon aus, dass eisenzeitliche Hüttenplätze existieren, doch die Suche danach entspricht der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen." Optimistisch fügt er an: „Das Auffinden einer gleichaltrigen Anlage zur Eisengewinnung kann eigentlich nur eine Frage der Zeit sein."

 

Zwei Rennöfen im Schelderwald

Freilich gab es auch positive Resultate bei diesen Ausgrabungen. So lieferte ein Fund tatsächlich ein Indiz dafür, dass die frühen Erzschmelzen doch wenigstens teilweise im Schelderwald, also unweit der Rohstoffquellen, gestanden haben müssen. Nur wenige hundert Meter abseits der Schelde-Lahn-Straße, auf halbem Wege zwischen Oberscheld und Hirzenhain, wurde in der Nanzenbacher Gemarkung eine Stelle ausgemacht, wo einstmals gleich zwei Rennöfen in unmittelbarer Nachbarschaft in Betrieb waren. Durch begleitende Keramikfunde konnte dieser Grabungsplatz in das späte Mittelalter eingeordnet werden.

So wie fast immer in der Wissenschaft tauchten auch hier mit der Beantwortung alter Fragen neue auf: Waren die Öfen wechselweise, oder erst der eine und dann der andere im Betrieb? Warum wurden sie mehrere Male - bis dahin eigentlich eher unüblich - an der gleichen Stelle wieder aufgebaut? Waren diese beiden Rennöfen damals nicht eigentlich schon technologisch überholt, weil es anderenorts schon die Erzschmelzen gab, die sich die Wasserkraft nutzbar machten?

Der andere außergewöhnliche Ausgrabungsplatz lag wiederum inmitten der historischen Verhüttungsstätten im Dietzhölztal. Denn da, wo man zunächst anhand der früheren Funde auch einen der vielen Rennöfen vermutete, kam schließlich etwas ganz anderes an das Tageslicht des zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts: die Reste einer Schmiede, die anhand der Begleitfunde in das 13. Jahrhundert datiert werden konnte.

 

Gründliche Arbeitsteilung schon im Mittelalter

Was man wiederum aus diesen Funden schließen konnte: Hier wurden aus den Rohluppen der umgebenden Rennöfen bei Temperaturen um tausend Grand Celsius Verunreinigungen als Schlacke ausgetrieben. Rohprodukte von hoher Qualität entstanden somit an diesem Ort, aber keineswegs fertige Gebrauchsgegenstände. Die wiederum wurden in Schmieden ganz woanders vollendet.

Die Schlussfolgerungen daraus: Zwar hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt die Techniken der Eisengewinnung und -verarbeitung, die um 1200 immerhin schon eine Tradition von fast siebzehn-, achtzehnhundert Jahren hatte, gegenüber ihren Anfängen in grauen Vorzeiten prinzipiell kaum verändert. Jedoch war es mittlerweile innerhalb dieses Produktionsprozesses zu einer grundlegenden Arbeitsteilung gekommen.

Bei den Männern, die im Schelderwald nach dem Eisenstein gruben, den „Waldschmieden", die die Rennöfen vornehmlich in den Wäldern links und rechts der Dietzhölze betrieben, und den Schmieden, die die Luppe wie hier beim heutigen Wissenbach weiter veredelten, handelte es sich nicht mehr wie in der Zeit vor Christi Geburt um die selben Personen. Ebenso könnten sich in jenen Jahrhunderten durchaus schon die Köhler, also die damaligen Energielieferanten, sowie die „Transportunternehmer", die das Erz auf Eselsrücken, vielleicht auch schon mit Fuhrwerken, zu den Hüttenplätzen brachten, als selbstständige Berufsgruppen herausgebildet haben.

Nicht nur wegen solcher Aufschlüsse war das historische Bodenrelikt von Wissenbach eine kleine wissenschaftliche Sensation unter den Experten. Seinesgleichen hatte man bis dahin höchst selten in Mitteleuropa gefunden und in Deutschland selbst völlig vergeblich gesucht.

Zurück zur Entwicklung der Öfen. Die Technologie, die bereits die Kelten zur Eisenherstellung beherrschten, blieb in ihren Grundzügen bis ins Mittelalter bestehen. Bis ins 13. Jahrhundert, je nach Region auch bis ins 14. Jahrhundert, wurde in den allenfalls gut mannshohen Rennöfen im direkten Verfahren die „Luppe", ein schmiedbares Eisen, gewonnen.

Danach wandelte sich die Technologie, äußerlich erkennbar vor allem am Wachsen der Öfen. Es begann die Zeit der „Massenhütten", die bis ins 17. Jahrhundert dauern sollte. Das Roheisen, das diese Anlagen, die auch „Stuck"- oder „Stücköfen" genannt wurden, fortan lieferten, wurde im indirekten Verfahren gewonnen. Es war kohlenstoffreich und machte somit einen weiteren Arbeitsschritt, das „Frischen", erforderlich.

Bis zu fünf Meter hoch waren jetzt die Öfen. Nicht mehr aus einer Lehmwand, sondern aus Mauerwerk wurden die Ofenschächte hergestellt. Hangwinde, wie bei den Rennöfen, reichten freilich nicht mehr zu deren Betreiben aus. Für die Sauerstoffzufuhr wurden jetzt Gebläse genutzt, vielleicht zunächst noch von menschlicher Kraft betrieben. Aber der Schritt zu den Blasebälgen, die mit Wasserkraft bewegt wurden, war ein rascher.

Die einstmals „vagabundierenden" Hüttenleute, die einfach weiterzogen, wenn die Standortbedingungen nicht mehr stimmten, mussten somit zwangsläufig fortan äußerst standorttreu werden. In die Täler mit den Flüssen und den größeren Bächen zogen sie. Damit waren die Hüttenplätze für viele Jahrzehnte, wenn nicht für Jahrhunderte festgelegt. Darüber gibt es alte Dokumente: 1443 werden Hütten bei Eisemroth und Steinbrücken urkundlich vermerkt, zwei Jahre später solche bei Oberscheld und Dillenburg („Hüttenplatz"!) 1447 werden die von Wissenbach und Haiger erstmals genannt, und abermals zwei Jahre später die von Ewersbach.

Der Münsteraner Wissenschaftler Albrecht Jockenhövel, der die erwähnten Ausgrabungen im Dietzhölztal und im Schelderwald leitete, sieht darin die Keimzelle der bis ins letzte Jahrhundert „florierenden Industriegassen", die sich an Dill und Dietzhölze entwickelten. Die Eisenprodukte, die Jahrhunderte später hier hergestellt werden sollten, vor allem die Öfen und Herde, entwickelten Weltruf, schreibt er in einem Beitrag zu dem Buch „EISENLAND – zu den Wurzeln der nassauischen Eisenindustrie", das 1995 als Begleitkatalog zu einer Sonderausstellung im Museum Wiesbaden erschien. Firmen wie BUDERUS, JUNO und HAAS & SOHN produzierten später an diesen uralten Industriestandorten.

Festgelegt waren die Standorte jetzt nicht nur, weil es wesentlich aufwändiger geworden war, die komplizierter gewordenen Konstruktionen zu verlagern. Ein anderer Faktor gab einen größeren Ausschlag für die Standorttreue. Bäche die genügend Wasser führen, gibt es im Lahn-Dill-Bergland seit jeher nur wenige. Obendrein wollten das fließende Nass ja noch Berufsgruppen nutzen: die Müller zum Antrieb ihrer Mahlwerke und vor allem die vielen Bauern, wenn sie in regenarmen Sommern ihre Wiesen bewässern wollten.

Mit dieser Vielfalt von Interessenkonflikten hatten sie zwangsläufig zu leben. Deswegen regelten schon früh von den Landesherren erlasse strenge Wasserrechte, wer wann und wo den Nutzen aus den Bächen ziehen durfte. Für die Hüttenmänner hatte das freilich zur Konsequenz, dass sie manches Mal in heißen Sommermonaten ihre Produktion einzustellen hatten. Auch wenn vielleicht an ihren Öfen noch genügend Wasser vorbei floss, so hatte die Sicherstellung der Nahrungsmittel damals doch eine höhere Priorität.

Doch zurück zum eigentlichen Thema, der Eisenverhüttung. 1587 wurde der erste Hochofen im heimischen Revier errichtet, der auf der Ewersbacher Neuhütte. Im 19. Jahrhundert wuchsen die Öfen noch einmal deutlich in die Höhe. „Am Ende der Entwicklung stehen dann die echten ‚Hochöfen' (bis über 10 m Höhe), die, zuletzt mit allen technischen Feinheiten ausgestattet, jahrzehntelang gefahren werden konnten", schreibt Jockenhövel dazu in dem bereits erwähnten wissenschaftlichen Aufsatz.

Was sich freilich von den Anfängen der Eisenverhüttung in vorchristlicher, keltischer Zeit bis zu diesem Zeitpunkt nicht geändert hatte, war der Energieträger: ausschließlich Holzkohle, hergestellt in den Meilern der Umgebung, für die die umgebenden Wälder als Lieferanten dienen mussten.

Doch gegen die Konkurrenz der mit Koks befeuerten Hochöfen, die in den Industriezentren, wie dem Ruhrgebiet schon seit Jahrzehnten auf ihre „Hüttenreise" gingen, konnten die heimischen Anlagen gerade mal so lange bestehen, bis die Eisenbahn als Massentransportmittel auch das Dilltal erreicht hatte. 1862 war die Linie von Köln über Dillenburg nach Gießen fertig gestellt. Auch wenn sich der Technologiewandel damals nicht annähernd so schnell vollzog wie heute – nach dreieinhalb Jahrzehnten waren die Zeit für die letzten beiden Holzkohle-Hochöfen, die in Burg und in Eibelshausen produzierten, abgelaufen.

 


 

Literatur:

1. Vom Ursprung und Werden der Buderus'schen Eisenwerke, Wetzlar 1938, Band I und II.
2. EISENLAND – zu den Wurzeln der nassauischen Eisenindustrie (Begleitkatalog zur Sonderausstellung der Sammlung Nassauischer Altertümer im Museum Wiesbaden, 29. Januar – 23. Juli 1995), herausgegeben von Bernhard Pinsker, Wiesbaden 1995.

Anmerkung:

Dieser Beitrag erschien im „HEIMATJAHRBUCH für das Land an der Dill im Lahn-Dill-Kreis" 2004, Verlag Weidenbach, Dillenburg

Seit unsere Vorfahren systematisch nach den Schätzen im Boden gruben, werden sie als Bergleute auch ihre eigenen Feste und Bräuche gehabt haben.

Die Menschen vor über zweitausend Jahren, die dem keltischen Kulturkreis angehörten und die ein Ringwallsystem in unserer Heimat anlegten, zum Schutz der Eisenerzvorkommen, wie Historiker spekulieren (die „Burg" bei Rittershausen und der „Heunstein" auf dem Höhenzug zwischen Dillenburg, Nanzenbach und Frohnhausen gehörten dazu) – hatten sie wie die ihnen verwandten Völker weiter westwärts in Europa ihre Druiden, mit denen sie in den Hainen ihren religiösen Ritualen nachgingen? Beteten sie dort ihre Götter an, baten sie dabei um Glück für die Suche nach den Erzen, denen sie damals nachgruben, meist nur wenige Meter unter die Erdoberfläche hinein? Wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Aber vermuten dürfen wir es.

fasnachtsmaennchen-uli-horch-2012 1 070Wir wissen es auch nicht von den germanischen Stämmen, die anschließend vom Norden her in unsere Heimat vordrangen und den seither hier Siedelnden das Land abnahmen. Mehr wissen wir erst aus der Zeit, als unsere Vorfahren sich dem christlichen Glauben zugewandt hatten. Mönche waren die ersten Schriftkundigen. Sie überlieferten uns Dokumente, aus denen wir allerlei Rückschlüsse ziehen können.

Im Mittelalter hatten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen ihre Heiligen. Für die Bergleute war es die Heilige Barbara. Das Fest dieser Märtyrerin aus dem dritten Jahrhundert nach Christi Geburt, die wegen ihres Glaubens zu Tode gefoltert wurde, wurde viele hundert Jahre lang begangen. Am 4. Dezember, in katholischen Gegenden bis zum heutigen Tage, und auch in unserer Region besinnt man sich neuerdings wieder dieses Brauches.

Mit der Reformation wandte man sich im Lande der von Nassau-Oranien allerdings vom katholischen Glauben ab und damit auch von den Patronen. Vollends verlor Sankt Barbara aber nie ihre Bedeutung für die heimischen Knappen. Noch im Jahre 1911 wurde im Dillenburger Kurhaus ihr Fest begangen (1), und es gab bis in die letzten Tage des Bergbaus an Dill und Schelde Bergleute, die – wenn auch evangelischen Glaubens – ihre Töchter deswegen auf den Namen Barbara taufen ließen.

Mit dem katholischen Glauben verlor für unsere Vorfahren, die tief in der Erde nach den Erzen gruben, der Barbaratag an Bedeutung. In die Fastnachtszeit verlagerten sich die Feste nun. Am Fastnachtsdienstag hatten sie lange Zeit ihren freien Tag, „mit gemeinsamen Kirchgang, deftigem Schmaus und fröhlichem Treiben", wie der Heimatforscher Dr. Karl Löber in einer seiner Arbeiten festgehalten hat (2).

An diesem Tage wurden auch die Berufsneulinge in die Zunft aufgenommen. Wie es heute noch bei manchen Handwerkszünftigen üblich ist, waren solche Initiationsriten rau, aber herzlich. In der von Löber zitierten Geschichte eines Nanzenbacher Knappen ist es auch der Höhepunkt, dass sich dieser Neuling schließlich von einem verkleideten Mann, der vorher von seinen Kollegen durchs Dorf geführt wurde, in eine Balgerei verwickelt wird – die in einem Jaucheloch endet. Entsprechend wird seine Montur ausgehen und gerochen haben. Obendrein musste er noch einen ausgeben – aber von jetzt an gehörte er dazu.

fasnachtsmaennchen-uli-horch-2012 1 072Mit den christlichen Erweckungsbewegungen gegen Ende des letzten Jahrhunderts teilte sich wohl das Fastnachtsverhalten. War der Kirchgang und der anschließende Besuch im Wirtshaus ursprünglich für alle eines gewesen, so gab es fortan im Dorfe diejenigen, die in die Kirche oder in die Versammlung gingen, und anderen, die den Vergnügungen im Wirtshaus und auf der Straße frönten.

Noch 1928 gab es in Hirzenhain und in Wissenbach den Bergmannsgottesdienst am Fastnachtsdienstag – „als Gegenstück zum allgemeinen Treiben", wie wir in alten Zeitungen nachlesen können (3). Hundert Jahre alt war diese Sitte damals schon, wie der Zeitungsredakteur bemerkte. In den anderen Dörfern was der fastnächtliche Kirchgang schon vorher verschwunden. Zwei Jahre später wurde er auch in Hirzenhain von der Tagesordnung genommen (4).

Der freie Fastnachtstag wurde offiziell abgeschafft. Die, die noch einem Broterwerb nachgehen konnten, werden es wohl nicht gewagt haben, dagegen zu protestieren. Die Mehrzahl der Knappen war nämlich nach den Krisen in den 20er Jahren, die die Schelderwald-Gruben besonders hart trafen und fast allesamt zum Erliegen brachten, schon längst ohne Lohn. So blieb dem Hirzenhainer Pfarrer nichts anderes übrig, als den Bergmannsgottesdienst auf den folgenden Sonntag zu verlegen.

Es dürfte dennoch auch kein Zufall sein, dass Oberscheld in der allerjüngsten Vergangenheit die Fastnachtshochburg schlechthin im alten Dillkreis war und ist. Auch wenn daran heute kaum mehr erinnert als das alljährliche Anstimmen des „Glück-auf"-Liedes in der gleichnamigen örtlichen Halle – die Beziehung zur Bergbautradition ist doch unverkennbar.

Zu dieser Tradition gehören auch die „Fassenochts"-Männer, die seit langem in Nanzenbach von Haustür zu Haustür ziehen. Mit Masken und Kostümen bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, bitten sie um Eier und andere essbare Dinge oder um kleine Geldbeträge. In einer Kneipe wird anschließend alles auf den Kopf gehauen.

Es wäre schön, wenn diese Sitten und Bräuche auch im 21. Jahrhundert noch Bestand haben würden – und dass die dann Lebenden den Bergbau links und rechts der Dill mitsamt seiner Kultur nicht nur aus den Museen und den Geschichten der Lokalhistoriker kennen.

 


 

Quellenangaben:
(1) Zeitung für das Dilltal, Nr. 285, 1911, S. 2.
(2) Dr. Karl Löber, Fröhliche Fastnachtsbräuche der Nanzenbacher Bergleute, in : Heimatjahrbuch 1961, S. 97 – 98.
(3) Dill-Zeitung Nr. 43, 20.2.1928, S. 3.
(4) Dill-Zeitung Nr. 54, 5.3.1930, S. 4.

 

Alljährlich gibt es im Bergbau Chinas Unglücke mit Dutzenden, vermutlich eher Hunderten von Toten zur Folge. Aber die Meldungen darüber schaffen es allenfalls in die Randbereiche unserer Massenmedien. Erst die spektakuläre Rettungsaktion in Chile, die vermutlich mehr als eine Milliarde Menschen weltweit live mitverfolgten, brachte es wieder ins Bewusstsein, dass der Beruf des Bergmannes nach wie vor einer der gefährlichsten weltweit ist.

Dabei ist sein Beruf nach wie vor für uns alle unverzichtbar. Vom Teelöffel bis zum Auto, vom Handy bis zum Düngemittel – kaum etwas, was uns Wohlstand und Lebensqualität sichert, und das nicht einen Rohstoff enthält, der im Bergbau über- oder untertage gewonnen wurde.

Dabei waren auch unserer Region Unglücke an der Tagesordnung, so lange der Bergbau florierte. Freilich: Solche mit katastrophalen Ausmaßen gab es im Schelderwald nicht. Die kamen vor allem im deutschen Kohlebergbau vor. „Schlagende Wetter", wie man die Methangasexplosionen nannte, Kohlestaubexplosionen oder auch Brände konnten hier zu verheerenden Folgen führen. So etwa am 12. November 1908 in der Grube „Nadbod" in Hamm, das 341 Kumpels das Leben kostet. Viele Zeitgenossen haben heute noch die Katastrophe vom 1. Juni 1988 in Erinnerung, als im nordhessischen Borken 51 Knappen ihr Leben verloren.

Das schwerwiegendste Unglück in der heimischen Region ereignete sich im Jahre 1872 in der Grube „Bindweide" unweit von Betzdorf, in der wie in denen links und rechts der Schelde Eisenerz abgebaut wurde. Freilich war die Ursache eher untypisch: Zwei Wassereinbrüche rissen vierzehn Männer in den Tod.

Wenn es im Schelderwald-Bergbau Schwerverletzte oder gar Tote gab, war das meistens auf Steinschlag zurückzuführen, manchmal auch auf einen Sturz in den Schacht. Auch unachtsamer Umgang mit Sprengstoff taucht in der Unfall-Statistik gelegentlich auf.

Schildern wir nun einige der tragischen Ereignisse, die keinesfalls erschöpfend sind, sondern nur einen kleinen, exemplarischen Blick auf die Schattenseite des heimischen Bergbaus werfen. Etwa das, das sich in der Nacht vom 8. auf den 9. September 1910 in der maschinellen Aufbereitung des Nikolausstollens ereignete. Der 17jährige Wilhelm Friedrich Schäfer wurde von dem Treibriemen des Brecherwerkes erfasst und mit auf die Transmissionswelle geschleift. Die Folge: ein Schädelbruch und eine Gehirnerschütterung. Er hauchte sein Leben in den frühen Morgenstunden in der elterlichen Wohnung in Nanzenbach aus.

Als der erste Weltkrieg begann, erhöhten die Materialschlachten an der Westfront den Eisenbedarf. Bedeutete das für manchen heimischen Bergmann zunächst das Glück, vom Militärdienst freigestellt zu werden, weil sein Einsatz in der heimischen Grube für die Strategen wichtiger war als der im Schützengruben, so wurden aber auch die Risiken in der Heimat größer. Die Hetze am Arbeitsplatz stieg, Sicherheitsmaßnahmen wurden vernachlässigt.

Alleine auf „Stillingseisenzug" verunglückten zwischen dem Herbst 1915 und dem Frühjahr 1918 drei Männer tödlich: Gestein erschlug Wilhelm Heinrich Klingelhöfer und Willi Gail. Heinrich Karl Nickel (der Urgroßvater des Autors!) verstarb nach dem Einatmen giftiger Sprengstoffgase. Sie alle stammten aus Nanzenbach, dem Dorf, das dieser Grube am nächsten lag.

Am 23. Juni 1915 kam es zu einem der seltenen Grubenbrände im heimischen Bergbau, auf dem Oberschelder „Auguststollen". Die Rauchschwaden zogen, bedingt durch den kräftigen „Wetterzug", wie der Bergmann die Frischluftzufuhr nennt, in die Untertageanlagen. Drei Männer der Nachtschicht, die aus Herbornseelbach, Bicken und Günterrod stammten, erstickten. Mehrere andere konnten, wenn auch bewusstlos, noch gerettet werden.

Ein schwarzer Tag im heimischen Bergbau war auch der 5. Juni 1919, an dem gleich vier Knappen verunglückten. Auf „Nikolausstollen" stürzte der 46jährige Nanzenbacher Gustav Wilhelm Hartmann in einem Überbruch ab und war sofort tot. Seine Witwe und sechs Kinder schauten in eine ungewisse Zukunft.

Wenige Kilometer weiter, auf der Zeche „Amalie" bei Hirzenhain, begrub herabstürzendes Gestein gleich drei Knappen unter sich, die alle aus Lixfeld kamen. Einer, namens Beck, konnte nach dreistündigen Arbeiten gerettet und schwerverletzt ins Dillenburger Krankenhaus gebraucht werden. Die beiden anderen, mit Nachnamen Schneider und Vater und Sohn, waren sofort tot.

Für die Schneiders war die Leidensgeschichte damit keineswegs zu Ende. Etwa fünfzehn Jahre später musste die Familie einen weiteren Sohn begraben. Er war mitsamt einer Lore in den Schacht der Grube „Königszug" gestürzt – offensichtlich, weil der Berufsanfänger noch nicht genug vertraut war mit den Begebenheiten untertage.

Wie dramatisch die Begleitumstände oft waren, zeigt ein Ereignis vom 2. Juli 1935. Auf „Königszug" erschlug herunterbrechendes Gestein den 39jährigen Richard Eichert. Seine Frau hatte ihm gut zwei Wochen zuvor einen Sohn geboren. Der Pfarrer taufte dann den kleinen Horst bei der Beerdigung seines Vaters am Sarge.

Auch das war ein Problem damals: Weil die Heuernte anstand, hatte Richard Eichert vor der Sechs-Uhr-Einfahrt in den „Königszug" frühmorgens schon eine Wiese gemäht, die auf dem Wege lag – für viele Bergleute, die fast alle noch eine Nebenerwerbslandwirtschaft hatten, damals eine Gepflogenheit. Die Sense hatte er wie üblich im Gebüsch versteckt, um sie nach Feierabend wieder mit nach Hause zu nehmen. Nachbarn der Eicherts machten sich nach seinem Tode auf die Suche nach dem Gerät, und fanden es auch glücklicherweise wieder. Eine Sense war in jener Zeit, als jeder Groschen vor dem Ausgeben mehrfach umgedreht werden musste, ein sehr teurer Gegenstand.

Es wären für die knapp vier Jahrzehnte, bevor der Bergbau im Schelderwald mit der Stilllegung des Falkensteins im Jahre 1973 endete, noch viele solcher Ereignisse anzufügen. Alleine für das besagte Jahr 1935 schrieb die Dill-Zeitung in ihrem Rückblick: „Sowohl bei Verkehrsunfällen als auch in Ausübung ihres Berufes kamen 11 Menschen ums Leben. Die Unfälle bei der Arbeit ereigneten sich meist in Gruben oder Steinbrüchen, wo der heimische Arbeiter wohl am meisten von Gefahren umlauert ist."

herbert-schmidSolche Bilder von Industrieanlagen sieht man nicht oft, wie die, die Herbert Schmid vom Oberschelder Hochofen gemacht hat. Die Farbfotos etwa, die an einem kalten Winterabend entstanden, nachdem in den Tagen zuvor Schnee gefallen war. Dass gerade ein Abstich erfolgt ist, sieht man am rotglühenden Schein, der aus dem Inneren der Halle nach draußen dringt. Die Lampen, die für die Arbeiter der Spätschicht unentbehrlich sind, sorgen für romantische Stimmung, genau so wie der beleuchtete Weihnachtsbaum, der auf einem der Winderhitzer befestigt ist.

Hat Herbert Schmid den Hochofen geliebt? Diesen Betrieb, der ihm ab dem 27. Januar 1947 für mehr als zwei Jahrzehnte Lohn und Brot geben sollte? So, wie andere ihre Heimat lieben? Oder war er für ihn gar zur Heimat geworden? Die hatte der damals 13-jährige schließlich gerade verloren, ein gutes halbes Jahr vorher.

Weikersdorf hieß das Dorf, wo er im Februar 1932 geboren und dann aufgewachsen war. Das im Altvatergebirge im Sudetenland lag.

Es waren dramatische Zeiten, die er in den letzten Tagen seiner Kindheit hier erleben sollte. Dramatisch und dann doch wieder völlig normal für die letzten Monate des 2. Weltkriegs und für die zwei Jahre danach. Ein Spiegelbild der Geschichte eben, die ganz Europa in diesen Tagen erschütterte und die das politische Bild dieses Kontinents völlig veränderte und dann auf über vier Jahrzehnte festschrieb.

herbert-schmid-hochofen-1Im Jahre 1944 griff der Krieg erstmals richtig in das Leben des damals 12-jährigen ein. Die Front rückte langsam näher. Viele Schulen in seiner Heimat wurden umfunktioniert: Als Lazarette für die verwundeten Soldaten mussten sie herhalten. Zudem gab es andauernd Fliegeralarm. An einen geregelten Unterricht für Kinder war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken.

Sein Vater starb in dieser Zeit, aber nicht wegen des Krieges. Ein Magenleiden raffte ihn dahin. Wie grausam der Krieg war, das bekam der Junge aber über seine Mutter mit. Mit sechs Brüdern war sie aufgewachsen. Fünf sollten in dem Krieg fallen, den Adolf Hitler 1939 entfesselt hatte.

Der eigentliche Krieg dauerte für Herbert Schmid kaum mehr als einen Tag, im Mai 1945. Über sein Weigersdorf flogen die Granaten hinweg, als die Artillerie der Roten Armee die Nachbarstadt beschoss. Dann waren die Russen da. „Die Frauen mussten sich vor denen in Acht nehmen. Aber uns Kindern machten sie nichts", erinnert sich Schmid. Im Gegenteil: Das erste Fahrrad, das er jemals besaß, bekam er von einem sowjetischen Soldaten geschenkt. Freilich: Der dürfte es zuvor woanders gestohlen haben.

Es folgte ein Jahr der Ungewissheit. 1945 war das Zusammenleben zwischen Tschechen und Deutschen im Sudetenland noch friedlich, wenn auch nicht immer ohne Zwang. Wie alle Heranwachsenden ab dem zwölften Lebensjahr musste Herbert Schmid den Tschechen in diesem Sommer als Erntehelfer dienen.

Ein Jahr später wurde alles anders. Die Sudentendeutschen bekamen die Rache derjenigen zu spüren, die unter den Nationalsozialisten zuvor gelitten hatten, im „Protektorat Böhmen und Mähren", wie sie das seit 1938 unterworfene Gebiet genannt hatten. In einem Lager hatten sich alle Deutsche einzufinden, lautete eines Tages der Befehl. 75 Kilogramm Gepäck aus ihrem bisherigen Besitz durften sie mit dorthin nehmen. Am nächsten Tag mussten sie in einen Zug einsteigen, mit etwa vierzig Personen in einen Wagon, in dem zuvor Güter und allenfalls Vieh transportiert worden war. Am 11. Juni, nach zwei Tagen, endete die Eisenbahnfahrt.

Herbert Schmid war mit Mutter, Bruder und Großvater im hessischen Burg angelangt. Das Ziel hatten sie beim Antritt der Fahrt noch nicht gekannt. Genau so wenig wussten die vier, wie es jetzt weiter gehen sollte – und noch viel weniger, ob sie jemals die Gegend im Altvatergebirge wiedersehen sollten, die den Schmids seit Generationen zur Heimat geworden war.

herbert-schmid-hochofen-3Vier Wochen lebten sie in dem Lager der Burger Hütte unter jämmerlichen Umständen. Dann wurden sie wie die übrigen tausendzweihundert Personen, die mit dem gleichen Transport in dem Dorf an der Dill angekommen waren, auf die umliegenden Orte verteilt. Die Schmids verschlug es nach Oberscheld. Die „blaue Schule", wie das Gebäude an der Schelde-Lahn-Straße hieß, war die erste Adresse, unter der sie jetzt erreichbar waren. Immerhin: Man hatte jetzt ein ordentliches Dach über dem Kopf. Woher freilich das Essen für den nächsten Tag kommen würde, sollte auch fortan noch genug erst im letzten Moment geklärt werden.

Ein halbes Jahr lang sollte sich an diesem Zustand nicht viel ändern. Dann kam der Tag, der im Lebenslauf fast so wichtig werden sollte wie sein Geburtstag: Am 27. Januar 1947 bekam der heimatvertriebene Junge, der das vierzehnte Lebensjahr noch nicht erreicht hatte, Arbeit. Am Hochofen, der Leben von Oberscheld schon über vier Jahrzehnte geprägt hatte. Seit dem Jahre 1905 wurde er mit dem Erz gefüttert, das die Bergleute aus den umliegenden Gruben des Schelderwaldes zutage förderten.

Das Eisen, das er produzierte, wurde in den umliegenden Gießereien zu Öfen und Badewannen und allerlei anderen nützlichen Gerät verarbeitet wurde. Es trug maßgeblich dazu bei, dass den kleinen Leuten in der Region zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen wurde. Ebenso wie der Strom, der mit den Gichtgasen des Hochofens produziert wurde, und der schon vor dem Ersten Weltkrieg die Dörfer der Umgebung mit elektrischen Licht versorgt hatte. Selbst aus der Schlacke, eigentlich ein Abfallprodukt bei der Eisenerzeugung, hatten die Ingenieure und Techniker dieser Hütte an der Schelde ein verkaufsfähiges Produkt herzustellen gewusst: Als Baustoff fand sie Verwendung.

In der Werkstatt dieses Hochofens fand er jetzt seinen ersten Arbeitsplatz als Hilfsschlosser. „52 Pfennig betrug damals mein erster Stundenlohn", das weiß der Rentner heute noch. Von sechs bis fünfzehn Uhr dauerte die Schicht. Sechs Tage in der Woche, denn der Samstag war damals noch ein völlig normaler Arbeitstag.

Gemessen an den vielen Tonnen Roheisen, die noch bis kurz vor Kriegsende täglich am Hochofen in Eisenbahnwagons verladen wurden, war sein Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands zunächst ein sehr bescheidener. Schmid musste wochenlang alte Schrauben gangbar machen. Wichtig war die Arbeit dennoch, damit den Produktion wieder anlaufen konnte. Ersatzteile für die Maschinen auf dem Markt zu bekommen, war 1947 schließlich noch ein hoffnungsloses Unterfangen.

Sonntag war die Gelegenheit für Extra-Schichten. Wagons auszuladen, war da meistens angesagt. Schrott und Koks, mit dem der Möller des Hochofens beschickt wurde, hatten sie gebracht. Schmid erinnert sich: „Die Überstunden wurden extra bezahlt, manchmal auch mit einem Sack Zement. Den konnte man womöglich bei den Bauern eintauschen, die mit Erbsen und anderem Essbaren aus der Wetterau kamen." Als die Lebensmittel, die einem damals offiziell zustanden, noch über Essenmarken rationiert waren, schuf das zusätzliche Sicherheiten für den Magen.

Wie so viele der jungen Heimatvertriebenen, die es in den Dillkreis verschlagen hatte, war Herbert Schmid bald im Leben seines Dorfes integriert. Das schuf neue Chancen, auch für Jobs. In Oberscheld hatte sich Heinrich Lommel als Schlossermeister selbstständig gemacht. Der gab jetzt Herbert Schmid die Gelegenheit, nach der Schicht am großen Ofen noch zusätzliche Stunden zu arbeiten.

Auf den umliegenden Gruben gab es allerlei Maschinen zu reparieren, ebenso wie an den Bohrtürmen, mit deren Hilfe im Schelderwald systematisch nach neuen Erzlagern gesucht wurde. Bis Mitternacht konnte er da schon mal in Lommels Auftrag unterwegs sein. Als fahrerbarer Untersatz diente ihm manchmal ein Kettengrad. Dieses urige Gefährt, das vorne mit einem lenkbaren Rad wie jedes Motorrad auch und hinten mit zwei kurzen Ketten wie ein Mini-Panzer ausgestattet war, war aus Wehrmachtsbeständen in den Besitz seines Chefs gelangt.

„Von dem habe ich viel gelernt", blickt der Mann heute zurück. Auch simplere Arbeiten gehörten dazu. Etwa, wie man aus drei alten, porösen Fahrradschläuchen einen neuen intakten machen konnte. Davon profitierte unter anderem der alte Doktor Sturm, wenn der seine Patienten zu Hause besuchen musste. Von Lommel bekam der Oberschelder Hausarzt dann auch sein erstes Auto nach dem Kriege, einen alten DKW. Herbert Schmid hatte mitgeholfen, daraus wieder ein funktionstüchtiges Fahrzeug zu machen.

Ein gutes Abendessen, das war da manches Mal sein Lohn. Jedenfalls bis zur Währungsreform. Die noch vorhandene Reichsmark bot nicht viel Gegenwert.

Das war nicht das einzige, was sich nach dem 20. Juni 1948 ändern sollte, als die neue D-Mark eingeführt wurde. Schlagartig waren die Regale in den Geschäften gut gefüllt. Das neue Geld war überall gerne gesehen. Ebenso schnell wuchsen die Gelegenheiten, sich welches zu verdienen.

Wagons über Wagons kamen am an der Oberschelder Hütte an. Zum Beispiel die Reste der Brücken, die der Krieg am Rhein zerstört hatte. Größere Teile der Ladungen mussten noch zerschnitten und zerlegt werden, damit sie überhaupt in die Gicht des Hochofens passten. Beim Entladen aus den Wagons halfen einfache Kranausleger, die die Hochofenarbeiter aus Holzstämmen selbst hergestellt hatten. Das Entladen und das dann folgende Zerschneiden der großen Eisenteile, das war eine der Gelegenheiten für Überstunden, die extra bezahlt wurden.

Zu dem Ladegut der Schrottwagen gehörten oft genau auch Munitionsreste. Dass die auch drei Jahre nach dem Ende Krieges noch nicht ganz ohne waren, erfuhr Herbert Schmid an einem Nachmittag im Sommer dieses Jahres. Zu Fuß war er nach Niederscheld unterwegs, wo sonntags in einem kleinen Kino Filme vorgeführt wurden. Da hörte er vom Hochofen her einen lauten Schlag. Die Ursache: Im Schrott, mit dem die Anlage gerade gefüttert worden war, war dieses Mal auch eine komplette, noch scharfe Granate gewesen. Sie riss ein ordentliches Loch in die Wand des Ofens. Freilich: Das war schon bald wieder repariert, ohne dass noch viel Aufhebens um dieses Ereignis gemacht wurde. Es war eben ein Ereignis, das zum Alltag derjenigen Zeit gehörte, als der Krieg zwar längst vorbei war, seine Folgen aber immer noch das Leben bestimmten.

Schrott schneiden, das sollte noch lange die Arbeitstage von Herbert Schmid bestimmen. Aber der technisch begabte junge Mann erledigte auch andere Aufgaben, oft auch bei den Überschichten. Er fuhr die große alte Gebläsemaschine und arbeitete im Kesselhaus. Später war er auch mit dem Reparieren der Armaturen beschäftigt, und er war Gerätewart bei der Werksfeuerwehr. „Ich kam überall hin, und ich hatte Förderer", erinnert er sich. Der Meister Kaiser war einer davon So eignete sich der junge Mann, der in den Nachkriegswirren keine Chance hatte, eine Lehre zu beginnen, das notwenige Know-how an. „Learning by Doing", heißt das heutzutage.

In den 50er Jahren nahm das Leben zunehmend geordnete Formen an, überall in der jungen Bundesrepublik. Die Wirtschaftswunderjahre standen bevor, auch in Oberscheld am Hochofen. Trotzdem gab es noch Ereignisse, die solcherart in einem vergleichbaren Betrieb heutzutage fast unvorstellbar sind. Das mit dem Dampfkran etwa, der rückwärts in den Kühlturm gefahren war, und der dann mit Holzmasten wieder geborgen wurde. Oder die Geschichte von der Hochofenlok. Als der Führer aus Jux mit einer Bundesbahn-Lok, die auf dem parallel laufenden Gleis fuhr, zu einer Wettfahrt ansetzte – und dabei vergaß, dass diese zwangsläufig mit einer Kollision auf der diese Schienen verbindenden Weiche enden musste.

So, wie der Job sicherer, die Löhne besser wurden, so wurde der Alltag in der Oberschelder Eisenhütte dennoch strenger. Arbeitsplatzbewertung, das war ein neues Wort, mit dem die Beschäftigten jetzt konfrontiert wurden. In der Folge gab es auch Rationalisierungen: Arbeitsplätze wurden gestrichen.

Dennoch gab es auch dieses, sogar bis zur Stilllegung des Betriebes im Jahre 1968: Getränkeautomaten, aus denen die Arbeiter auch Bier ziehen konnten. Fünfzig Pfennig kostete die Flasche. Was heute unvorstellbar und überall streng verboten ist, regulierte sich damals bis zu einem gewissen Grade offenbar weitgehend von alleine. Denn Kollegen, die am Arbeitsplatz durch Trunkenheit auffielen, waren die große Ausnahme, wie Schmid sich erinnert.

Der Wohlstand kam also, die Wirtschaftswunder-Ära der jungen Bundesrepublik. Herbert Schmid verdiente jetzt so viel Geld, dass er mehr in sein Hobby investieren konnte. Die Leidenschaft für die Fotografie war schon in seinen jungen Jahren geweckt worden. Kurz nach der Währungsreform im Jahre 1948 hatte er die erste Kamera gekauft. „Bei Foto-Wissenbach in Herborn, für neun Mark und ein paar Pfennige", erinnert er sich. Dass er die Schwarz-Weiß-Bilder, die er damals schoss, selbst entwickelte, gehörte für ihn dazu. Ebenso faszinierte ihn die Technik der kleinen Geräte. Er arbeitete sich gut in sie ein, dass er schließlich in der Lage war, manche Reparatur selbst vorzunehmen.

Dass ein Fotoapparat dazu gehört, das wurde bei den meisten seiner Zeitgenossen in den 50er und 60er Jahren zur Selbstverständlichkeit. Aber die meisten gingen anders damit um als Schmid. Sie hielten das Außergewöhnliche ihres Lebens fest: die Feiern und die Urlaubsreisen. Aber kaum das alltägliche Leben. Das machte der Oberschelder. So wie er das Hobby zur Perfektion entwickelte, so wurde er dabei sensibel für die gewöhnlichen Ereignisse. Und so hielt er die Geschehnisse am Hochofen fest. Es entstanden die Bilder dieser Eisenhütte an den bitterkalten Wintertagen, die heute zu den schönsten von dieser ehemaligen Industrieanlage überhaupt gehören.

Wer die wirtschaftliche Entwicklung damals sensibel mitverfolgte, konnte ahnen, dass diese Fotos bald historischen Wert haben würden. Zwar wurde Ende August 1960 der zweite Ofen in Oberscheld nach einem zweimonatigen Stillstand noch einmal auf seine Hüttenreise geschickt. Zwar erreichte er in jenem Jahr seinen Produktionsrekord. Aber werksintern wurde da bei der Berghütte schon längst über Stilllegungen nachgedacht.

So, wie die Welt friedlicher geworden war, so hatten die großen Eisenhütten Deutschlands jetzt problemlos den Zugriff auf die Erze aus Übersee – die trotz der weiten Transportwege weitaus kostengünstiger zu beziehen waren.

„Amalie", „Neue Lust", „Königszug" und schließlich auch „Falkenstein" hatten keine Chance mehr in der Konkurrenz gegen die Bergbau-Giganten in Schweden, Indien oder Brasilien. Auch wenn die Oberschelder Hütte zuletzt sogar auch Erze aus dem indischen Goa verhüttete, verlor sie mit dem Sterben der umliegenden, wenige Kilometer entfernten Gruben im Schelderwald die Grundlagen für ihre Existenz.

Am 21. April 1968 erfolgte der letzte Abstich. 195 Arbeitsplätze waren es insgesamt, die an diesem Frühlingstag von heute auf morgen verloren gingen.

Herbert Schmid hatte da schon seit vierzehn Tagen einen neuen Arbeitsplatz. Auf der „Burger Hütte", einem der Traditionsbetriebe im Dilltal, dessen Existenz auch einmal, wie der im Volksmund haften gebliebene Name „Hütte" verriet, als Hochofenstandort begonnen hatte.

Er gehörte zu denen, die in den Jahrzehnten vor 1900 die Eisenverhüttung aufgeben mussten, da ihre noch mit Holzkohle betriebenen Hochöfen nicht mehr konkurrenzfähig waren, wo wie auch die von Sinn, Niederscheld und Eibelshausen etwa. In reine metallverarbeitende Betriebe, die den Rohstoffe Eisen woanders bezogen, hatten sie sich in der Zeit danach gewandelt. Allerlei nützliche Produkte, die den Lebensstandard steigerten, stellten sie her.

In Burg waren es vor allem die Waschmaschinen. „Vier Monate blieb ich dort. 1500 Waschmaschinen schraubte ich in dieser Zeit zusammen", erinnert sich der Oberschelder an diese Zeit. Doch die monotone Tätigkeit und der Akkord, das war nichts, bei dem er sich wohl fühlte. Und so kam der Hinweis zur rechten Zeit, doch bei den Stahlwerken Südwestfalen, die ein Jahrzehnt zuvor am Ortsrand von Dillenburg ein großes Werk errichtet hatten, einfach mal anzufragen.

Nachdem er sich beim zuständigen Meister Manfred Beermann vorgestellt hatte, konnte er wenige Tage später hier anfangen. Die Kenntnisse, die er sich in den zwei Jahrzehnten am Hochofen angeeignet hatte, waren ihm fortan wieder äußerst nützlich. Als Maschinenwärter arbeitete er zunächst, und später in einer fünfköpfigen Gruppe, die im Werk als „Vorbeugende Instandhaltung" bezeichnet wurde. Dass die Kräne und andere Maschinen funktionierten, lautete ihr Auftrag, und dafür waren sie fast die ganze Schicht über in den großen Werkshallen unterwegs.

Achtzehn Jahre blieb er hier, fast so lange wie am Hochofen. 1986 schickte ihn die Konzernzentrale in den Vorruhestand, mit 56 Jahren, wie so viele seiner Kollegen auch, und mit 60 wurde er offiziell Rentner.

Jetzt hatte er richtig Zeit für sein Hobby, der Fotografie. Im Niederschelder Fotoclub, der einen Ruf weit über sein Dorf hinaus erhalten sollte, engagierte er sich. Mit Günter Heine, seinem langjährigen Vorsitzenden, stellte er mehrere Tonbildserien zusammen über die heimische Wirtschaftsgeschichte. Da waren seine Fotos aus den 60er Jahren hochwillkommen. Gar manchen Abend faszinierten sie einen Saal voller Zuschauer.

Zu den aktiven des Fotoclubs im Nachbardorf gehört er noch immer. Mit der Kamera ist er der Mann, der seit vier Jahren Witwer ist, immer noch unterwegs. So auch damals in der Nacht von Sonntag auf Montag im September 2007, als ein Hochwasser in den Dörfern des Schelderwaldes Millionenschäden anrichtete. Auch diese Fotos bekommen in den Monaten danach Hunderte von Interessenten zu sehen.

Digital zu fotografieren und die Fotos am Computer zu bearbeiten, das ist für ihn heutzutage selbstverständlich. Im Internet dagegen bewegt er sich kaum. Er weiß freilich, dass er beim Surfen hier auf seine Fotos stoßen würde. Hochgestellt wurden sie freilich von Zeitgenossen, die ihn nicht deswegen fragten – ein glatter Verstoß gegen das Urheberrecht. Doch darüber will sich der 79jährige Mann nicht mehr aufregen.

Vielleicht auch deswegen nicht, weil seine Fotos für viele Oberschelder schon längst zum Inbegriff dessen gehören, was Heimat ist?!

Die Menschen in unserer Heimat werden es damals als einen riesigen Fortschritt betrachtet haben, als endlich die Eisenbahn auf direktem Wege Dillenburg mit Biedenkopf verband. Als noch der Güterverkehr viel wichtiger als die Beförderung der Personen war, und als endlich die Gruben des Schelderwaldes, der Oberschelder Hochofen und die Eisengießereien im Hinterland auf direktem Weg miteinander verbunden waren.

Doch in den ersten zwölf Jahren war der Betrieb jenseits der Station „Herrnberg“ in der Nanzenbacher Gemarkung ein sehr umständlicher. Hier begann der Sechzig-Promille-Anstieg bis zur Wasserscheide kurz vor Hirzenhain-Bahnhof. Anfangs konnte der nur mit Zahnradtechnik bewältigt werden. Die Sicherheitsvorschriften besagten, dass die Züge hier jeweils nur aus der Lok und zwei Wagons bestehen durften. Die Zahnradlok musste jeweils talwärts vor den Wagen angekuppelt werden, egal bei der Bergan- oder bei der Bergabfahrt.

Ab dem Jahre 1923 stand dann eine neue Maschine zur Verfügung, die die Steilstrecke im Reibungsbetrieb überwinden konnte: die preußische T 16.1, die bei der neugegründeten Reichsbahn kurze Zeit später als Baureihe 94.5 eingeordnet wurde.

Die Vorschriften für die Steilstrecken wollten es auch, dass die hier eingesetzten Lokomotiven mit zwei voneinander unabhängigen Bremssystem ausgestattet sein mussten, und diese „94er“ hatten sie: neben der normalen Druckluftbremse die so genannte Riggenbach’sche Gegendruckbremse.

Diese Dampfrösser sollten fast fünfzig Jahre den Verkehr zwischen Dillenburg und Biedenkopf beherrschen. 1935 waren vierzehn Maschinen im zuständigen Bahnbetriebswerk der Oranierstadt beheimatet, 1951 ein Dutzend, und 1969 – drei Jahre, bevor sich die Dillenburger vom Dampfbetrieb verabschiedeten – noch exakt die Hälfte davon.

Freilich: Die Leistungen im Personentransport mussten sie sich ab dem Jahre 1956 mit zweimotorigen Schienenbussen teilen.

 

Einer von ihnen, der 94 1538 sollte ein besonderes Schicksal beschieden sein. Kurz vor Weihnachten 1971 wurde sie ausgemustert. Sie ging jedoch nicht wie fast alle anderen dem Weg zum Schrotthändler, sondern wurde herausgeputzt und sogar neu angestrichen. Als Denkmal sollte sie am Bahnhof Gönnern aufgestellt werden – dafür hatte ein örtlicher Bauunternehmer gesorgt. Was damals noch niemand ahnte: Sie sollte als solches nicht nur all ihre „Schwestern“ und die Scheldebahn überhaupt überleben, sondern ein gutes Vierteljahrhundert später wieder Züge durch die Lande ziehen.

Am 14. April des Folgejahres wurde sie von einer anderen 94er über die Wasserscheide in das Hinterländer Dorf geschleppt. Am 30. April folgte die feierliche Einweihung dieses technischen Denkmals – am gleichen Tage wie das ebenso feierliche Aus des Dampfbetriebes im Bahnbetriebswerk Dillenburg. Die mit Girlanden geschmückte 094 540-2 zog aus diesem Anlass ein letztes Mal sechs Personenwagen von der Oranierstadt nach Gönnern.

Nachgeschoben wurde der Zug von der Diesellok mit der Nummer 213 337-9. Einige rotlackierte Maschinen dieses Typs waren seit ein paar Tagen hier stationiert. Sie sollten die Ablösung der hochverdienten 94er bilden und bis zum Ende des Betriebes auf der Scheldebahn im Einsatz bleiben. Das erfolgte Ende Mai 1987. Da feierte kein Mensch mehr. Aber in den Wochen zuvor konnte man an manchen Tagen Dutzende von Fotografen an dieser Strecke beobachten, die die letzten Impressionen von dieser Strecke festhalten wollten. Drei Jahre später begann die Bundesbahn mit dem Abriss der Gleise zwischen Niederscheld und Breidenbach.

Die 94 1538 aber gammelte weiter vor dem Bahnhofsgebäude von Gönnern von sich hin. Zuletzt in einem mehr also desolaten Zustand – das Dach des Führerstandes war schon eingestürzt - geschah etwas, womit keiner der heimischen Eisenbahnfreunde mehr gerechnet hätte.

Zwei gut betuchte Dampflokfans aus dem Ruhrgebiet ließen die Maschine von ihrem Sockel auf einen Tieflader heben und in das Ausbesserungswerk der thüringischen Stadt Meiningen bringen. Für 800.000 Euro wurde sie dort instand gesetzt und wieder betriebsfähig gemacht. Ein Jahr später kam sie schon bei einer ersten Sonderfahrt zum Einsatz. Seitdem hat sie oft Museumszüge gezogen, vor allem in der Eifel um Gerolstein herum, aber auf anderen Strecken Deutschlands.

Wie es einmal war, wenn die 94 1538 den Schelderwald hinauf schnaubte, davon konnten seitdem dem Tausende von Enthusiasten noch einmal Eindrücke gewinnen – nur halt weit abseits der einstigen Heimat dieses Dampfrosses. Ob es eine Idee wäre, sie im Jahre 2011, dem hundertsten Geburtstag der Scheldebahn, auch mal wieder zurück nach Dillenburg nach Dillenburg zu holen – in die Eisenbahnerstadt, wo sie jahrzehntelang gewartet und auf die von hier ausgehenden Strecken geschickt wurde?!

Luftangriffe auf deutsche Industrieanlagen waren in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkriegs an der Tagesordnung. Doch so, wie die Nazis diesen Krieg von langer Hand planten, so hatten sie auch vorgesorgt. In den Betrieben lagen deswegen detaillierte, mit deutscher Gründlichkeit ausgearbeitete Alarmpläne für die Belegschaft vor. Erarbeitet worden waren sie in der Regel schon vor dem Beginn des Bombardements durch die Alliierten – ja zum Teil schon vor dem Ausbruch des Krieges.

Auf einem Flohmarkt entdeckte der Oberschelder Joachim Hartmann, der bis zum letzten Jahr der Vorsitzende des „Bergbau- und Feldbahnvereins Schelderwald" war, den Alarmplan für die Grube „Neue Lust". Die war bis zum Jahre 1963 in der Nanzenbacher Gemarkung in Betrieb und gehörte zu den größten im heimischen Revier.

Akribisch waren darin alle Maßnahmen aufgelistet. Die Luftschutzwarnstelle befand sich am Herrnberg, der Beobachtungsposten an der Seilbahnstation auf dem „Hölzchen", dem Berg nahe bei Oberscheld, der eine gute Rundumsicht bietet. Hier knickte die Seilbahn im rechten Winkel ab, die das in mehreren Gruben geförderte Eisenerz über die Höhen rechts der Schelde heranbrachte. Von hier aus waren es über das Tal hinweg nur noch wenige hundert Meter bis zu Hochofen.

Der Beobachter hatte im Falle eines Angriffs als erstes den Werkluftschutzleiter Schwarz auf „Neue Lust" telefonisch zu benachrichtigen, oder den Stellvertreter des „W.L.L.", Hermann Weyershausen. Zur Grube gehörte auch ein „Werkluftschutztrupp", der sich aus zwölf Männern zusammensetzte, die bis auf einen alle aus dem benachbarten Nanzenbach kamen. Diese hatten, wie das Dokument ebenfalls belegt, den dafür notwendigen Grundschulungslehrgang absolviert, der bereits am 7. und 8. Juni 1938, also noch zu Friedenszeiten (!) auf der Grube „Beilstein" stattgefunden hatte.

Die Alarmierung hatte dann laut Anordnung folgendermaßen vonstatten zu gehen:

„Seilbahnbedienung gibt empfangene Meldung an:

  1. Bote Erwin Müller
  2. evtl an W.L.L. Schwarz direkt
  3. Reinhard Wilh. Gräb bringt die im Magazin aufbewahrten Ausrüstungsgegenstand des Werkluftschutztrupps in den Schutzraum im Tiefen Stollen, Neue Lust.
  4. Die Seilbahnbedienung trifft die letzten Vorbereitungen zur Benutzung des splittersicheren Schutzraumes unter den Erzbunkern und bezieht ihren Beobachtungs- und Meldeposten.
  5. Erwin Müller bedient den Fernsprecher im Zechenhaus.
  6. Wilhelm Friedrich Gail bereitet den splittersicheren Schutzraum im Tiefen Stollen zur Aufnahme der übrigen Tagesbelegschaft vor.
  7. Im übrigen geht der Betrieb weiter.

Weitere Vorschriften lauteten: „Erwin Müller setzt den Kompressor, die Seilbahnbedienung die Seilbahn, der Lokomotivführer seine Maschinen still." Im Übrigen hatte Müller auch den Alarm-Gong am Zechenhaus zu bedienen sowie die Bewohner der Werkswohnung (damals musste der Betriebsführer mitsamt Familie auf dem Zechengelände wohnen) sowie die Übertage arbeitenden Belegschaftsmitglieder in den Tiefen Stollen zu bringen. Berge Um die fast hundert Knappen, die tief im Berge arbeiteten, brauchte man sich naturgemäß in diesem Moment keine Gedanken zu machen – nirgendwo konnte man im Falle eines Flugzeugangriffs sicherer sein als „vor Ort"!

Die Seilbahnbediener selbst hatten freilich mehr oder weniger an Ort und Stelle zu bleiben:

„Die Seilbahnbedienung bezieht:

  1. Brandwachenposten an den Seilbahntelefonen
  2. Beobachterposten auf der Seilbahnstation.

Maßnahmen während bezw. unmittelbar nach einem Fliegerangriff:

  1. Beobachter und Brandwache auf der Seilbahnstation nehmen so gut als möglich Sicht- und Splitterdeckung. Die Gasmaske ist verwendungsbereit umgehängt, bei Gasgefahr wird Gasmaske aufgesetzt.
  2. Beobachter und Brandwache melden über Betriebstelefon an W.L.L. Schwarz im Schutzraum sofort und genau ihre Beobachtungen, Fliegertätigkeit, Einschläge, Brände, Gasgefahr u.s.w.
  3. W.L.L. schreibt diese Meldungen mit Angabe der Empfangszeit genau auf und entscheidet über die sofort zu treffenden Maßnahmen."

So ziehen sich die Vorschriften mit detaillierten Namens- und Verhaltensangaben über mehr als ein Dutzend Seiten hin. Selbst der vorbeugende Luftschutz ist geregelt, unter anderem mit der Anweisung: „In Zukunft werden bei allen laufenden Dacherneuerungen die Gebäude (vor allem die Seilbahnstationen) so mit farbiger, teerfreier Pappe gedeckt, daß sie sich möglichst wenig von der nächsten Umgebung (Wald, Wiese, usw) abheben."

Das war ohnehin der Vorteil der Schelderwaldgruben: Sie schmiegten sich in Täler und an Hänge und die unmittelbare Umgebung war meist bewaldet, und der größte Teil der Gebäude war aus der Luft kaum von einem Wohnhaus oder einem landwirtschaftlichen Betrieb zu unterschieden. Selbst beim „Königszug", der als größter Betrieb im Schelderwald damals schon fast fünfhundert Beschäftigte hatte, mögen die Piloten der US Airforce die Übertageanlagen kaum als Hinweis auf einen großen Industriebetrieb gehalten haben.

Auch wenn die Beobachterposten auf dem „Hölzchen" vermutlich doch den einen oder anderen Alarm auslösten, so wird es vor allem diesen Umständen zu verdanken sein, dass es keine Bombenangriff auf diese Zechen gegeben hat.

Die gab es dennoch im Schelderwald – wie auch anderenorts vor allem gegen die Bahn. Davon berichtet unsere nächste Folge.

Freilich: Attacken gab es trotzdem im Schelderwald – und die waren, wie so häufig damals in unserer Heimat, vor allem gegen die Bahn gerichtet. Mit die folgenschwerste fand am 9. September 1944 statt.

Nachdem die Alliierten am 6. Juni dieses Jahres mit der Invasion in der Normandie auf dem europäischen Festland Fuß gefasst hatten, rückten sie im Sommer auf das Deutsche Reich zu. Nach und nach eroberten sie auch immer mehr Flugplätze, die bis dahin von der Nazi-Luftwaffe genutzt worden. Seit sie von dort ihre Lightnings, Mustangs und Thunderbolts starten lassen konnten, war die heimische Region in deren Reichweite gerückt.

Gegen diese Piloten mit ihren ein- oder zweimotorigen Maschinen halfen auch Beobachtungsstationen wie die auf dem „Hölzchen" nur wenig. Denn sie flogen meist sehr, sehr niedrig, die Deckungen des Geländes ausnutzend und tauchten dann unvermittelt über den Bergen und Baumwipfeln auf.

So auch an diesem Spätsommertag am Herrnberg. Einen Zug, der gerade vor dieser Bahnstation wartete, nahmen sie mit ihren Maschinengewehren unter Beschuss. Einer der Passagiere erlitt schwere Verletzungen dabei.

Wesentlich dramatischer waren die Ereignisse am gleichen Tag und fast zur gleichen Uhrzeit ein paar Kilometer weiter, vor dem Bahnhof Gönnern. Aus Niedereisenhausen war gerade der 17-Uhr-Zug eingerollt, als aus Richtung Steinperf kommend sieben Jagdflugzeuge auftauchten. Weder die Einwohner dieses Dorfes noch die Passagiere hatten so etwas bis zu diesem Tage erlebt, und so glaubte man zunächst, es seien deutsche Luftwaffen-Flugzeuge, die den Tiefflug übten.

Doch als man deren hellen Sterne – die Hoheitszeichen der US-Airforce – gewahrte, warfen sie auch schon ihre Bomben auf den Zug, um ihn dann mit neuerlichen Anflügen mit Maschinengewehrgarben einzudecken. Deren Wirkung war verheerend: Fünf der Zuginsassen waren sofort tot, zwei weitere überlebten nur um einige Stunden.

Möglicherweise waren es die gleichen Flugzeuge, die mit todbringender Wirkung zwischen dem Herrnberg und dem Bahnhof Gönnern hin und her flogen. Wenn nicht, dürften sie zumindest zur gleichen Einheit gehört haben – womöglich, lässt sich das mit gründlichen Recherchen in amerikanischen Archiven noch aufdecken.

Weitere Tote gab es bei ähnlichen Attacken gegen Züge der Scheldebahn in den folgenden Monaten. Im Dezember verlor ein Post-Lehrling sein Leben, als nahe am Oberschelder Hochofen einmal mehr die Jabos angriffen. Zwei Monate später, im Februar 1945, warfen Ami-Flieger Brandbomben auf die Haltestelle Niederscheld-Nord. Zwei Tote hatte das zur Folge, darunter ein Kind.

Diese Ereignisse konnten erst Jahrzehnte später anhand der Erinnerung von Zeitzeugen niedergeschrieben werden. In jenen schrecklichen Jahren, als der von den Nazis entfachte Krieg millionenfachen Tod über Europa gebracht hatte, waren sie allenfalls Randnotizen in der Geschichte.

Hart traf es freilich das Dorf von Niederscheld. Am Ortsrand stand die Adolfshütte in Betrieb, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ihren eigenen Hochofen hatte und später ihr Roheisen aus Oberscheld bezog – und in allerlei nützliche Produkte verwandelte. Doch jetzt hatten die Nazis aus ihr eine Waffenschmiede gemacht. In unmittelbarer Nachbarschaft grenzte zudem der große Dillenburger Verschiebebahnhof an – beides wichtige Ziele für alliierte Luftflotte. Hier waren es freilich nicht die Tiefflieger, sondern die schweren Bomber der strategischen Verbände, die aus großer Höhe ihre tödliche Fracht entluden – mit Dutzenden von Toten und Verwundeten.

Ein anderes Kapitel des Luftkriegs über dem Schelderwald war offenbar geplant, aber glücklicherweise nie zu Ende geführt worden. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass in den letzten Kriegswochen ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt wurden, zum Bau von unterirdischen Anlagen, vor allem am „Handstein"-Gelände zwischen Oberscheld und Eisemroth. Dass sie in Verbindung standen mit dem Einsatz von Hitlers „Vergeltungswaffen", den „V1"- und „V2"-Raketen, spekulieren Lokalhistoriker.

Doch machten die amerikanischen Bodentruppen diesem Spuk schneller als erwartet ein Ende. Ende März 1945 hatten sie den Dillkreis in Besitz genommen.

Am 15. Februar 1872 wurde als erste Nebenbahn aus dem Dilltal diejenige in Betrieb genommen, die in den Schelderwald führte. Zehn Jahre fuhren jetzt schon die Züge zwischen Deutz und Gießen, die auch Dillenburg an das neue Verkehrsnetz anschlossen, das sich flächendeckend in ganz Deutschland breit machte.

Seitdem dominierte der Gütertransport, und so war sie auch schon um etliche Anschlüsse ergänzt worden, von den Gruben und Hütten des Siegerlandes vor allem. Doch während diese ausschließlich alle von den jeweiligen Nutzern bezahlt wurden, investierte die Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft, die auch die Hauptstrecke geplant und finanziert hatte, bei dem Projekt in den Schelderwald noch einmal selbst. Natürlich: Sie versprach sich Gewinn, und ihre Erwartungen sollten in der Folgezeit nicht enttäuscht werden.

Fast vierzig Jahre lang sollte sie eine kurze Stichbahn bleiben. Die Endstation „Nicolausstollen" war freilich geschickt gewählt. Dicht nebeneinander förderten damals hier gleich vier große, damals noch selbstständige Gruben Eisenerz zutage: „Königszug", „Stillingseisenzug" und - etwas weiter entfernt - „Beilstein" und „Ölsberg".

Ein Stichgleich zweigte dort ab, wo später der Hochofen gebaut werden sollte, und band die Gruben an, die auf der Eisernen Hand förderten, dem Gebirgszug zwischen Oberscheld und Eisemroth. Dazu gehörten u.a. der „Burger Stollen" (später „Auguststollen"), der „Handstein" und das Bergwerk „Sahlgrund". 1902 kam noch ein Stichgleis zur „Grube Prinzkessel" hinzu, die unweit des heutigen Oberschelder Fußballplatzes abbaute.

Bis 1896 blieb die Scheldebahn eine reine Güterbahn. Erst am 1. März dieses Jahres wurde hier auch der Personenverkehr aufgenommen, als Kursbucheinheit mit der neuen Dietzhölzbahn, die vier Jahre zuvor zwischen Dillenburg und Ewersbach eröffnet worden war.

In den Jahren danach wurden erste Gedanken darüber laut, die Scheldebahn bis ins Hinterland zu verlängern. Der wirtschaftliche und politische Druck erhöhte sich nach dem Jahre 1905. Nachdem nämlich alle mit Holzkohle betriebenen Hochöfen im Lahn-Dill-Bergland in den letzten Jahrzehnten des alten Jahrhunderts erloschen waren, blühte nach wie vor der Eisenerzbergbau im Schelderwald. Die Hütten der Umgebung waren alle in reine Eisengießereien umgewandelt worden, die Endprodukte herstellten, Herde und Öfen vor allem, aber auch Gussteile für die Eisenbahn sowie Maschinenguss und –zubehör.

Was in der Produktionskette jetzt fehlte, war ein Betrieb, der das Erz in Roheisen umwandelte. Am stärksten betroffen von dem Problem war der Hessen-Nassauische Hüttenverein, damals der größte Besitzer sowohl von Gruben als auch von Gießereien in der Region. Der ließ deswegen 1904 in Oberscheld einen neuen Hochofen bauen, der, wie die im Ruhrgebiet schon lange, jetzt endlich auch Koks als Energieträger nutzte. Im Jahre 1905 ging er auf seine erste „Hüttenreise", wie der Insider damals die Betriebszeit nannte.

Zwar hatte der seinen Bahnanschluss. Aber wenn die Betriebe in Dautphe, Laasphe oder Breidenbach sein Roheisen, mussten die beladenen Wagons auf den langen Umweg über Dillenburg, Wetzlar, Gießen, Marburg und Biedenkopf geschickt werden.

Die Dillenburger Handelskammer machte sich 1904 für dieses Projekt stark. Schließlich wurde ein Komitee gegründet, in dem Dillenburgs Bürgermeistermeister Gierlich, Bergschullehrer Dr. Karl Dönges federführend tätig waren, und vor allem Gustav Jung und Richard Jung. Sie gehörten beide zu den Managern des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins, wie sich das Familienunternehmen genannt hatte, das im Jahre 1847 von ihrem Vorfahr Johann Jakob Jung gegründet worden war, nachdem er schon vorher zusammen mit anderen Männern in der Umgebung Hütten besessen hatte. In vielen Dörfern, durch die die Strecke führen sollte, gab es Zusammenkünfte von Bürgern. Zum Teil füllten sie zu Hunderten die Säle.

Mit Erfolg. Im August des gleichen Jahres ordnete der zuständige Minister für öffentliche Arbeiten die konkreten Planungen an. Allerdings sollte es noch einmal fünf Jahre bis zum ersten Spatenstich dauern.

Gleich zweier Eröffnungszuge bedurfte es am 28. April 1911, die von Biedenkopf nach Dillenburg starteten, um die Strecke feierlich in Betrieb zu nehmen – so viele Fahrgäste wollten bei diesem Festakt dabei sein.

Die Zeitung „Zeitung für das Dilltal" berichtete in einem zweiseitigen Artikel am Tage danach mit euphorischen Worten über dieses Ereignis. „Durch die neue Bahn sind die benachbarten Kreise Dill und Biedenkopf enger und fester miteinander verbunden, sind sich die beiden Kreisstädte Dillenburg und Biedenkopf, die sich gegenseitig seither nur auf weitem Umweg besuchen konnten, räumlich wesentlich näher gerückt, sind Handel und Wandel neue glückverheißende Wege erschlossen worden", lautete seine Kernaussage.

 

„Zwischen den Tälern der Dietzhölze und des Nanzenbaches senkt sich von der Bottenhorner Hochfläche im Nordosten ein stark reliefierter Höhenzug in mehreren Stufen südwestwärts. Bevor er zum Dilltal hin abbricht, erreicht er, etwa 3 km nördlich von Dillenburg, im Heunstein mit 472,5 m NN noch einmal eine beherrschende Höhe... Eine markante Diabasrippe im Scheitel bestimmen die äußere Gestalt dieses Berges. Das Erzreichtum ließ im Mittelalter im weiteren Umkreis einen blühenden Bergbau entstehen."

E. Schubert schrieb diese Sätze über den „Ringwall Heunstein", ein Führungsblatt, das im Jahre 1989 als Nr. 71 in der Reihe „Archäologische Denkmäler in Hessen" vom Landesamt für Denkmalpflege herausgegeben wurde.

Von Karl August von Cohausen schrieb er damals auch, der 1879 erstmals auf diesen Ringwall aufmerksam machte, von dem Haigerer Forstmeister Heinrich Behlen, der ein knappes Vierteljahrhundert später hier forschte und schließlich von Ferdinand Kutsch, der zwischen 1926 und 1931 hier offiziell Ausgrabungen vornahm. Von Wallanlagen und von Fliehburg war damals die Rede, und kurz danach vereinnahmen die Nazis dieses Stück Lokalgeschichte: In ihrer Ideologie konnten es natürlich nur die Germanen gewesen sein, die hier ihre Spuren hinterlassen hatten.

Heute weiß man mehr, denn gerade über das Volk, dem die Bauten auf dem Heunstein zu zuschreiben sind, ist das Wissen in den letzten zwei Jahrzehnten enorm angewachsen. Nicht als Fliehburg, die nur bei Gefahren benutzt wurde, sondern als eine der keltischen Höhensiedlung wird sie heute betrachtet, als „Oppidum", wie die Römer sie bezeichneten.

Von diesen stammt auch der Begriff „Kelten" - die sich selbst vermutlich nie so bezeichnet hatten. Sie hatten auch wohl mit höchster Sicherheit kein Selbstverständnis als gemeinsames Volk. Ihr Zugehörigkeitsgefühl galt wohl eher den Stämmen, in denen sie ihr Leben organisierten, und die mal miteinander, aber vermutlich viel öfter gegeneinander paktierten.

Was sie für unsere Regionalgeschichte so interessant macht: Die Bodenfunde vom Heunstein, aber auch von anderen Orten der Umgebung belegen, dass sie Waffen und Werkzeuge aus Eisen besaßen. Der logische Folgeschluss: Sie müssen in der Lage gewesen sein, Eisenerz abzubauen und es zu „verhütten", wie der Fachmann zu dem Umwandeln in reines Eisen sagt. Inzwischen gibt es Aussagen von Historikern, dass die Kelten vor der Zeitenwende den Römern in dieser Technologie weit voraus waren, dass für dieses Volk, das die Hochkultur in der antiken Zeit prägte, das Roheisen aus unserer Heimat, aber auch die Fertigprodukte eine hochbegehrte Handelsware war.

Auf dem Heunstein war also vor Christi Geburt ein Zentrum der heimischen Siedlungsgeschichte. Die Leute, die hier siedelten, mussten sich aus der Umgebung ernähren. Wie sie ihr Leben organisierten, liegt noch im Dunkeln der Geschichte. Aber es ist wahrscheinlich, dass ringsherum Landwirte siedelten, die Abgaben leisteten. Und mit hoher Sicherheit auch Bergleute, die das Eisenerz dort abbauten, wo es ans Tageslicht trat, „ausbiss", wie der Bergmann dazu sagt.

Gute fünf Kilometer in östlicher Richtung, jenseits vom heutigen Nanzenbach, beginnen die geologischen Rohstofflager. Noch heute gibt es hier jede Menge Spuren alter Tagebauen zu entdecken, die allerdings vermutlich eher aus der Neuzeit des Bergbaus stammen.

Antworten auf manche dieser Spekulationen könnten die Reste eines alten Dörfchens liefern, die vom Autor selbst erst vor zwei Jahren entdeckt wurden. Nicht weit vom Appersberg, einer der höchsten Erhebungen des Schelderwaldes, zeugt mehr als ein Dutzend von Siedlungspodien davon, dass hier einmal Gebäude standen – errichtet aus den ortsüblichen Materialien Holz und Lehm.

Siedelten hier die ersten Bergleute, die systematisch nach dem Eisenerz des Schelderwaldes gruben? Dr. Sabine Schade-Lindig vom Wiesbadener Landesamt für Denkmalspflege, die im Frühjahr 2008 die Bodenfunde als solche abnahm (und bestätigte), spekuliert so. Wegen der Nähe zum Heunstein hält sie es für wahrscheinlich, dass diese Siedlungsreste in die keltische Zeit einzuordnen sind. Freilich: Es ist nicht auszuschließen, dass sie durchaus auch jünger, vielleicht erst tausend Jahre alt und damit hochmittelalterlich sind. Aber selbst dann wären sie für die heimische (Bergbau-)Geschichte durchaus von größerer Bedeutung.

Die beste Zeit auf dem Heunstein herrschte offenbar etwa im Jahre 120 v. Chr. Ein gutes halbes Jahrhundert später war er zerstört, aus welchen Gründen auch immer.

Es gibt seit vielen Jahren genügend Hinweise darauf, dass die Kelten in unserer Heimat schon um 400 v. Chr. lebten, etwa auf der „Lay" bei Rittershausen oder auf der Kalteiche. Auch bei ihnen gehörten nachweislich schon Gegenstände aus Eisen zum Alltag. Jedoch kann der dafür benötigte Rohstoff ebenso aus dem Siegerland gestammt haben, dessen Eisenerzlager von dort nicht furchtbar viel weiter entfernt lagen als die des Schelderwaldes. Es sind noch viele Fragen offen.

Foto: So wie diese rekonstruierte Kelten-Anlage in Ringelai (Bayrischer Wald) könnte das Dörfchen hinter dem Appersberg auch einmal ausgesehen haben.

Über Selbstverständliches denkt man nicht viel nach. Das wird Otto Horch im Jahre 1913 auch nicht getan haben, als er sich am Ende seiner achtjährigen Volksschulzeit für einen Beruf zu entscheiden hatte. Wie die meisten Nanzenbacher Jungen in jenen Jahren ging er in den Bergbau.

Auf „Friedrichszug" fand er eine Anstellung. Das war für ihn ein Glücksfall: Der Fußweg zu dieser Zeche, die als einzige des Schelderwaldes damals schon im Besitz von Buderus war, war in zwanzig Minuten zu schaffen. Die meisten anderen Bergleute hatten in diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wesentliche weitere Märsche bis zu ihren Arbeitsplätzen zu bewältigen.

Auch das wird für ihn selbstverständlich gewesen sein: dass er gleich Mitglied in der Knappschaft wurde, hier seine Beiträge für den Krankheits- oder Unglücksfall und die Altersvorsorge bezahlte. Schließlich machten das alle Bergleute damals so.

„In 1934 wurde mir das Ehrenamt ‚Knappschaftsältester' übertragen", schrieb er rückblickend knapp zwanzig Jahre später in seinem Lebenslauf. Für sein persönliches Leben war das nicht mehr unbedingt selbstverständlich. Denn zum Knappschaftsältesten wurde in den Dörfern um den Schelderwald herum allenfalls einer benannt.

Tradition hatte es allerdings da schon seit Jahrhunderten, dass die Bergleute vorsorgten: für Krankheit und Alter, und vor allem auch für die Folgen von Unfällen bis hin zum Tod – schließlich gehörte ihr Beruf seit jeher zu den gefährlichsten im Lande. Ihr Vorsorgesystem regelten sie anfangs ausschließlich selbst. Aber auch im letzten Jahrhundert, als es per Gesetz schon für ganz Deutschland geregelt war, spielte die Selbstorganisation der Betroffenen noch immer eine große Rolle.

1994 veröffentlicht Ulrich Lauf sein Buch „Die Knappschaft", mit dem Untertitel „Ein Streifzug durch tausend Jahre Sozialgeschichte". Ausdrücklich geht er darauf ein, was heutzutage als Geburtsurkunde der bergmännischen Sozialversicherung betrachtet wird.

Am 28. Dezember 1260 signiert Bischof Johannes von Hildesheim ein Pergament, in dem er eine Bruderschaft an der Sankt-Johannes-Kirche am Rammelsberg bei Goslar bestätigt. Diese Harzer Bergleute hatten sie zuvor gegründet „zur Hilfe für die Armen und Schwachen, die durch die Arbeit in dem besagten Berg von körperlicher Hinfälligkeit und materieller Not bedingt sind". Der Bischof stellte sie damit unter den Schutz seiner Kirche.

Für diese Zeit ist solch ein Dokument nahezu einmalig. Es sollte 150 Jahre dauern, bis sich aus dem Harz und auch aus anderen Bergrevieren, vor allem aus Sachsen, die Hinweise auf ähnliche Zusammenschlüsse mehren. Um 1426 taucht erstmals der Begriff „Knappschaft" dafür auf. Aber noch gilt das Sammeln ihrer „Büchsengelder" mehr ihrem kirchlichen Leben – etwa dem Aufstellen von Kerzen oder dem Stiften von Altären.

Erst nach 1500 findet der konsequente Wandel in eine berufsständige Sozialfürsorge statt, bei der das Bezahlen von Geldern für Krankheit, Invalidität und die Begräbnisse ihrer Mitglieder in den Mittelpunkt rückt. Selbst finanzielle Zuschüsse für den Schulbesuch der Bergmannskinder gehörten zu Beginn der Neuzeit dazu.

Im neunzehnten Jahrhundert erfährt das Knappschaftswesen einen deutlichen Wandel. 1832, als das Industriezeitalter soeben eingeläutet worden war, wird im niederschlesischen Waldenburg das erste knappschaftseigene Krankenhaus eröffnet. In den Jahrzehnten danach sollten noch viele dazu kommen.

1854 schließlich, lange bevor Reichskanzler Otto von Bismarck die Grundlagen für ein einheitliches deutsches Sozialwesen schafft, regelt ein „Preußisches Knappschaftsgesetz" deren Angelegenheiten. Die öffentlichen Knappschaftsvereine werden fortan selbst verwaltet. Deren Vorstände setzen sich zu gleichen Teilen aus den gewählten Vertretern der Werksleiter der Knappschaftsältesten zusammen. Nach 1866, als unsere Heimat unter preußische Verwaltung kam, gilt das auch für die Bergleute des Schelderwaldes.

Nach 1870 setzen die Knappschaften ein anderes Signal. Im Ruhrgebiet boomt der Bergbau auf Steinkohle. Von überall her, selbst aus dem fernen Polen, werden die Arbeitskräfte angeworben. Sie und ihre Familien wohnen in den Orten, die sich manchmal binnen Jahrzehnten von Dörfern zu Großstädten mausern, zunächst meist unter erbärmlichen Bedingungen – bis die Knappschaften den Bau von Zechenkolonien fördern, und damit zu den Pionieren des sozialen Wohnungsbaus werden.

1923, in den jungen Jahren der Weimarer Republik, wird die Reichsknappschaft gegründet, in der die bisherigen Vereine aufgeben. Die ehemals weitestgehend eigenständigen Vereine müssen viel von ihrer Selbstbestimmung aufgeben, als sie in den Bezirksvereinen aufgehen. Die für das Revier an Lahn und Dill zuständige ist die Gießener Knappschaft, die ihren Sitz in Weilburg bekommt. Das benachbarte Siegerland Revier, das damals genau so bedeutend ist, hat seinen Bezirksverein in Siegen.

Die meisten dieser historischen Zusammenhänge wird Otto Horch nicht gekannt haben, als er 1934 sein Amt übernimmt. Aus der Sicht der Knappschaftsspitze ist es aber in diesem Jahr eine absolute Selbstverständlichkeit, dass Aufgaben von einem Knappschaftsältesten vor Ort wahrgenommen werden.

Zu ihm haben die Kollegen aus dem Dorf den kurzen Dienstweg, im wahrsten Sinne des Wortes. Er übergibt ihnen bei Bedarf die Krankenscheine und andere Formulare und hilft, wenn notwendig, beim Ausfüllen derselben – so wie er auch im Zweifel ein Auge darauf hat, dass kein Missbrauch mit den Leistungen dieser Solidargemeinschaft getrieben wird.

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Otto Horch wird Knappschaftsältester bis zu seinem Tode im Jahre 1964 bleiben. In diesen Jahren des bundesdeutschen Wirtschaftswunders spielt der heimische Bergbau noch einmal eine große Rolle. Doch die Jahre, die er da noch vor sich haben sollte, lassen sich an zwei Händen abzählen: 1968 schließt der „Königszug", der zehn Jahre zuvor noch 500 Knappen beschäftigt hatte, vier Wochen später wird der Oberschelder Hochofen ausgeblasen, der die Schelderwald-Erze seit 1905 verhüttet hatte. 1973 erfolgt das Aus für die Grube „Falkenstein", die erst 1959 den Abbau aufgenommen hatte.

So, wie sich die Wirtschaftsstruktur nicht nur an Lahn und Dill, sondern in ganz Deutschland gewandelt hat, so hat sich auch die Knappschaft gewandelt. Aber als starke Krankenkasse ist sie immer noch da. Seit 2007 steht sie durch einen Beschluss des Bundesgesetzgebers als solche für alle gesetzlich Versicherten offen.

Das erwähnte Dokument vom 28. Dezember 2010 ist für sie der Anlass, zum Ende des letzten Jahres ihr 750jähriges Jubiläum zu begehen. In Goslar und in Bochum, wo sie ihren Sitz hat, gibt es Feiern, und die deutsche Post gibt sogar zu diesem Anlass eine Briefmarke heraus.

Die Feiern wirken sich aus bis zum Rande des Schelderwaldes: Nanzenbach hat seit dem Jahre 2011 seinen „Knappschaftsweg". Der Hintergrund: Die Knappschaft Hessen-Thüringen mit Sitz in Frankfurt hatte alle Städte und Gemeinden dieser beiden Bundesländer angeschrieben, in denen es einmal Bergbau gab. Ob man nicht „vor Ort" eine Straße nach der Knappschaft benennen könne?

Dillenburgs Bürgermeister Michael Lotz reicht dieses Ansinnen an seine Ortsvorsteher weiter. Neubaugebiet mit neu zu benennenden Straßen gibt es derzeit in keinem Stadtteil, und so hat der von Nanzenbach, Rudolf Gräb, diese Idee: einen kleinen Seitenstrang am oberen Ortsausgang, der seither zur Hauptstraße zählte, in „Knappschaftsweg" umzubenennen.

Die Anlieger, die er befragte, stimmten sofort zu – zumal wohl kaum woanders eine paar Häuser so dicht zusammen stehen, die allesamt Bezüge zur bergmännischen Tradition unserer Heimat haben.

Dort, wo jetzt die Nr. 5 am neuen Knappschaftsweg prangt, empfing bis vor knapp fünfzig Jahren der Knappschaftsälteste Otto Horch seine Kollegen, um ihnen weiter zu helfen Wie viel hundert Bergleute werden den kurzen Stich bis zu seinem Haus gegangen sein, um seine Hilfe in Anspruch zu nehmen? Sein Sohn Manfred, der heute hier lebt, lernte auch noch den Beruf des Bergmannes. Bevor er zum Dillenburger Straßenbauamt wechselte, arbeitete er auf dem „Königszug" noch als Gehilfe bei den Markscheidern, bei denjenigen, die über und unter Tage für das Vermessen zuständig waren.

Am Rande des Gartens vom „Knappschaftsweg 3", den sein Nachbar Stefan Diehl nach dem Umbau der geerbten Scheune zu einem Wohnhaus gerade neu gestaltet hat, gab es noch vor einem halben Jahrhundert ein Stollenmundloch, das vom örtlichen Bergbau auf Kupfererze übrig geblieben war. Der Stollen führte zum „Kupferkauter Schacht", der wiederum in Verbindung mit der „Gemeine Zeche" stand. Hier wurde, wie der Name schon sagt, vor allem Kupfer gewonnen, daneben auch noch Eisenerz und Schwefelkies. Immerhin bildeten die „Gemeine Zeche" mit der „Neuen Mut" und der „Alten Lohrbach" und einigen kleineren Nanzenbacher Gruben einmal das bedeutendste Kupfererz-Reservoir von ganz Nassau. Diese zu verhütten, war 1728 der Anlass, die „Isabellen-Hütte" zu gründen – ein Dillenburger Traditionsbetrieb, der heute noch als High-Tech-Unternehmen Produkte in alle Welt liefert.

Das taube Gestein aus diesem Stollen hatten die Knappen im vorletzten Jahrhundert auf eine Halde gekippt, die bis an die Hauptstraße heranreichte. Reinhard August Horch, mein Großvater, kaufte diese Halde im Jahre 1926 und stellte das Haus darauf, das am neuen Knappschaftsweg die Nr. 2 trägt – mein Elternhaus, dessen Scheune ich zu Wohnzwecken umbaute.

Das sind nicht die einzigen Bezüge zum historischen Bergbau im Schelderwald. Heinrich Nickel, der gemeinsame Urgroßvater von Stefan Diehl und von mir, verstarb 1916 auf „Stillingseisenzug" nach einem Sprengstoff-Unglück. Unsere Großväter, Reinhold Nickel und Reinhard August Horch, verbrachten ihr komplettes Arbeitsleben unter Tage, der eine auf „Königszug", der andere auf „Friedrichszug".

Auch mein Vater, Helmut Horch, legte noch 1960 die Hauer-Prüfung ab. Insgesamt arbeitete er siebzehn Jahre im Bergbau, im „Königszug" und in der Wissenbacher Schiefergrube „Batzbach".

Das Umbenennen dieses kleinen Straßenstücks fällt in die Zeit, in der in diesem Dillenburger Stadtteil ohnehin eine regelrechte Aufbruchstimmung herrscht. Nanzenbach hat seinen Bescheid erhalten, in das hessische Dorferneuerungsprogramm zu kommen. Seitdem hat es mehrere Treffen gegeben, bei dem die Bewohner über die Zukunft ihres Ortes nachgedacht haben.

Auch an anderen Stellen im Dorf auf die Bezüge zum ehemaligen Bergbau zu verweisen, könnte helfen, die Traditionen zu wahren – und gleichzeitig dazu beitragen, einen sanften Tourismus, der sich in den Anfängen befindet, zu fördern. Es muss ja nicht immer gleich einer neuer Straßenname sein.