So könnte es gewesen sein: Für die Menschen, die sich in grauen Vorzeiten hier niederließen, war es ein idealer Standort. Der Berg westlich, der heute Appersberg genannt wird, bot Schutz vor den Winden, die meist aus Westen wehten. Zum Osten hin fiel ein Hang steil bergab. Für den, der hier sein Haus baute, bot es damals eine gewisse Beruhigung: Aus dieser Richtung konnten schon mal keine Feinde oder welche auch Übeltäter immer im Sturmlauf angreifen.

Ein paar Meter oben standen Felsen aus Diabas. Die Verwitterung freilich hatte im Laufe der Jahrhunderte auch dieses harte Gestein, das vor Hunderte von Millionen Jahren hier durch vulkanische Tätigkeit entstanden war, zum großen Teil in kleine Brocken zerlegt. Handliche Stücke waren es jetzt. Sie waren ideal für die Zwecke der neuen Siedler, am Hang flache Stellen für die Fundamente ihrer Häuser zu schaffen.

Zudem hatten sie inmitten der Felsbrocken eine Quelle entdeckt. Mit den genügend vorhandenen Steinen und mithilfe von Lehm fassten sie sie ein. Die meiste Zeit konnten die Bewohner der einfachen Häuser, von denen ein knappes Dutzend in den folgenden Jahrzehnten hier entstanden, genug Wasser holen für ihre einfachen Lebensbedürfnisse. Fiel die Quelle in heißen, trockenen Sommermonaten doch einmal trocken, so floss in den benachbarten Tälern, die die Nanzenbacher heute als „Rembach" und als „Übelwasser" bezeichnen, immer noch das kostbare Nass. Zehn, fünfzehn Minuten Fußweg reichten dann allemal, um an das wichtigste aller Lebensmittel heranzukommen – denn diese beiden Bächlein waren seit Menschengedenken nie trocken gefallen.

Zum Südosten hin schloss sich eine nahezu ebene Fläche ein, die in diesem Mittelgebirge auf rund 400 Meter Höhe optimale Bedingungen für die Landwirtschaft bot. Äcker, die mit Getreide bestellt wurden, daneben Wiesen, auf denen das Vieh weidete – so wandelten die Menschen, die damals hier wohnten, die Fläche für ihre Bedürfnisse um. Jeder Quadratmeter dieser sonnenbeschienen Fläche war wertvoll. Auch das war ein Grund, dass die Menschen ihre Häuser lieber am schattigen Osthang errichtet hatten.

So ungefähr könnte es mal gewesen sein. Wann? Man weiß es nicht genau. Aber belegt ist es, durch Dr. Sabine Schade-Lindig vom Landesamt für Denkmalspflege. Sie weilte im April 2008 deswegen in Nanzenbach. Siedlungsspuren sind es ihrer Meinung nach eindeutig, die nach Aufräumarbeiten in Folge des Kyrill-Sturmes hier entdeckt wurden, in der Gemarkung „Weiersheck".

Das Zeitfenster, das für sie in Frage kommt, beginnt in keltischer Zeit, etwa 800 v. Chr. Das dieses Volk hier einmal lebte, ist immerhin durch die „Lay" bei Rittershausen (400 v. Chr.) und den „Heunstein" im Gemarkungsdreieck von Dillenburg, Nanzenbach und Frohnhausen (100 v. Chr.) belegt.

Aber ebenso könnten die eben geschilderten Ereignisse auch im Mittelalter, vielleicht sogar noch im späten um 1200 n. Chr., sich ereignet haben. Denn die Siedlungsformen, wie man die Häuser baute, die Art und Weise, Landwirtschaft zu betreiben, hat sich aus heutiger Sicht über all die Jahrhunderte nur minimal geändert.

Wie lebten die Menschen hier? Vor allem: Wie lange lebten sie hier? Ein paar Jahre, über zwei, drei Generationen oder gar über viele Jahrhunderte?

Waren es wirklich schon Kelten, die hier ihre einfachen Häuser aus Holz und Lehm bauten? Wurden sie von den von Norden her vordringenden Germanen vertrieben? Oder vielleicht assimiliert? Warf der ein oder andere siegreiche Germane ein Auge auf die ein oder andere Keltin? Gab es bald Kinder, die von beiden Völkern abstammten?

Hatten diese Menschen schon das Erz in der unmittelbaren Nachbarschaft entdeckt, das so vortrefflich war, um Waffen und Werkzeuge aus Eisen herzustellen? Immerhin: Noch keine 500 Meter weiter wurde in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Tagebau verfüllt, in dem noch in der Neuzeit dieser Rohstoff abgebaut wurde. Und für Archäologen gilt die Regel: Bergbautätigkeit der letzten Jahrhunderte zerstört die aus den Tagen der Vor- und Frühgeschichte.

Ebenso wahrscheinlich ist: Die Menschen siedelten erst im späten Mittelalter hier. Warum gaben dann sie diesen Standort auf? Etwa, weil die Pest sie dahin gerafft hatte? Oder auch nur eine „einfache" Hungersnot? Zwei, drei kühle verregnete Sommer oder ein Schädling im Getreide reichten schon für Missernten in Folge.

Oder hatten sie einfach das Leben auf dem Höhenzug aufgegeben und waren ins Tal nach Nanzenbach gezogen oder in eines der anderen Dörfer am Rande des Schelderwaldes, die es damals nachgewiesermaßen schon gab?

Fragen über Fragen. Ob wir sie jemals beantworten können? Der Boden hinter dem Appersberg birgt Geheimnisse. Gründliche Bodenuntersuchungen, Pollenanalysen der einstmals hier wachsenden Pflanzen, Genanalysen von Haustieren, die vielleicht schon hier gehalten wurden – all das wird vielleicht einmal Informationen liefern über unsere Vorfahren. Über die Vorfahren, die gewiss hier siedelten und die versuchten, aus der rauen Umgebung das Beste für sie und ihre Familien hervorzuholen.

Das meiste davon werden wohl erst die uns nachfolgenden Geernationen zur Kenntnis nehmen können. Denn die wissenschaftlichen Methoden, eindeutige Ursachen- und Wirkungszusammenhänge zu liefern, entwickeln sich nach Aussagen von Dr. Sabine Schade-Lindig in rasantem Tempo. In der Archäologie ebenso wie in der Kriminalistik, die schon längst benachbarte Wissenschaften geworden sind.

Raubgräber könnten sie zerstören. Aber ebenso auch weitere klimawandel-bedingte Stürme, die die Holzfäller mit ihren modernen Maschinen wieder in die Wälder schicken. Denn wo die wirken, bleibt kein (historischer) Stein auf dem anderen.