Dillenburg-Eibach. „Der Beginn der Abteufarbeiten fällt in die ersten und schwierigsten Nachkriegsjahre, als unser Bergbau mit den beiden Hochofenwerken von unserer Muttergesellschaft getrennt war. Da ich als der damalige Treuhänder auf mich allein gestellt war und keinen Aufsichtsrat hatte, konnte ich die Genehmigung zur Durchführung der Arbeiten nur von der Oberen Bergbehörde in Wiesbaden und der Amerikanischen Militärbehörde einholen. Sie wurde am 15.7.1947 von den Herren Berghauptmann Graf und Colonel Dieter erteilt.“

Mit diesen Worten blickt Wilhelm Witte gegen Ende des Jahres 1956 auf die wirren Zeiten zurück, in denen er schwierigste Entscheidungen zu treffen hatte. Der Schrägschacht der Grube Königszug war jetzt gerade fertig geworden - ein Novum nicht nur im heimischen, sondern im gesamten deutschen Bergbau.

Die Umstände im Jahre 1947: Der Krieg war gut zwei Jahre zuvor zu Ende gegangen. Die vier Besatzungsmächte hatten das Sagen im zerstörten Reich. Hessen gehörte zur amerikanischen Besatzungszone. Das Land hatte am 1. Dezember 1946 seine Verfassung verabschiedet, und in der wurde ausdrücklich betont, dass der Bergbau und die Schwerindustrie in Gemeineigentum übergehen sollten. Schließlich hatten gerade die Großindustriellen mit ihrer finanziellen Unterstützung dafür gesorgt, dass ein Adolf Hitler groß werden und große Teile der Welt ins Unglück stürzen sollte.

1947: Bis die Bundesrepublik gegründet werden sollte und die staatlichen Verhältnisse endlich wieder geordnet sein sollten, würde es noch einmal fast zwei ganze Jahre dauern.

Bei Buderus hatte Witte zuvor in Diensten gestanden, dem eisenverarbeitenden Konzern, der seine Wurzeln im Vogelsberg, im Taunus und an der Lahn hatte. Im Schelderwald, dem Zentrum des hessischen Eisenerzbergbaus, war der Name lange Zeit unbedeutend gewesen. Gerade mal eine Grube besaß Buderus hier, die er 1883 von dem Freiherrn von Wittgenstein erworben hatte: den „Friedrichszug“, nicht weit entfernt vom heutigen Nanzenbacher Sportplatz.

Das kehrte sich vor fast siebzig Jahren nahezu völlig um. 1933 übernahm Buderus die Zechen des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins mitsamt dem Oberschelder Hochofen, nachdem dieses Unternehmen ins Schlingern gekommen war. Nach schwierigen Verhandlungen konnte der Konzern vier Jahre später von der Preußischen Bergwerks- und Hütten-AG (Preußag) den „Königszug übernehmen - das Filetstück des heimischen Reviers. Als kurz danach noch die Grubenfelder der Sinner Neuhoffnungshütte und der Burger Eisenwerke erworben werden konnten, hatte Buderus binnen weniger Jahre sein Tätigkeitszentrum völlig verlagert: in das Dreieck zwischen Eibach, Nanzenbach und Oberscheld.

Weil freilich das Ende der Erzvorräte auf etlichen Gruben absehbar war, etwa auf „Amalie“, „Friedrichszug“ und „Auguststollen“, nahm die Bergverwaltung im Schelderwald systematische Probebohrungen vor, um die Vorräte bestehender Gruben zu erforschen und neue Lagerstätten zu erschließen. Ihre Ergebnisse waren eindeutig: der „Königszug“, der auf dem sogenannten „Eibacher Erz-Lagerzug“ abbaute, der vom „Laufenden Stein“ bei Dillenburg bis zur „Amalie“ bei Hirzenhain reichte, würde auch künftig das Abbau-Zentrum im Schelderwald bilden.

Dass das der alte Hauptschacht, der schon 1890 angesetzt worden war, in Zukunft nicht mehr alleine bewältigen konnte, darüber war sich schon die Preußag im Klaren gewesen. Mit Macht wurde dieser Mangel Buderus bewusst, als zwei Jahre nach dem „Königszug“-Erwerb der Krieg ausbrach. Zwar konnten die Förderkörbe noch 12.000 Tonnen Erz monatlich ans Tageslicht fördern, wenn in zwei Schichten gearbeitet wurde. Aber die zusätzlichen Nachtschichten reichten kaum noch für die Material- und Bergeförderung aus - geschweige denn für die Reparaturen, die natürlich auch immer wieder anfielen.

Die Lösung konnte nur in einer neuen Schachtanlage liegen. Darüber waren sich die verantwortlichen Buderus-Manager schon 1942 einig. Fünfzehntausend Tonnen Roherz sollte sie täglich bewältigen können, bei sieben Stunden reiner Förderzeit - das sahen die Pläne inmitten des Zweiten Weltkriegs vor. 1949 wurden sie nach unten korrigiert: Zwar sollte noch die gleiche Menge die Tiefen der Berge verlassen, aber dafür sollten jetzt zehn Stunden täglich zur Verfügung stehen.

Bei anderen Entscheidungen aber blieb man. Nicht mehr senkrecht - „seiger“, wie es in der Sprache des Bergmanns heißt - sondern schräg sollte der Schacht in die Tiefe führen. Mit einem Neigungswinkel von 67 Grad würde er sich dem Verlauf des Erzlagers anpassen.

Ihn bis zu fünfhundert Meter abzuteufen, war das nächste Ziel. Wenigstens die 700-Meter-Sohle zu erreichen, sollte zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. Hatten doch die geologischen Untersuchungen Erzvorräte selbst noch in neunhundert Meter Tiefe nachweisen können.

1947 wurden die Vorarbeiten für den Schrägschacht begonnen. Auch wenn es noch nie einen solchen im heimischen Bergbau gegeben hatte, so konnte man aus dem Bau von früheren senkrechten Schächten Nutzen ziehen. „Bei seigeren Schächten ist es erprobt, dass die Schachtröhre einfacher und billiger herzustellen ist, wenn man den geplanten Schacht unterfährt, im Schachtzentrum ein Überhauen schießet und dann das Überhauen von oben nach unten auf den vollen Querschnitt erweitert, als wenn man den ganzen Schacht abteuft“, blickte Ernst Wiederstein, der Betriebsführer des Königszugs, 1956 in der Extra-Ausgabe der „Berghütte“-Werkszeitung auf die ersten Arbeiten zum Schrägschacht zurück.

Diese führte zunächst ein beauftragtes Unternehmen durch. Das war vor allem damit beschäftigt, Querschläge und Strecken aus den vorhandenen Grubenbauen zum neuen Schacht anzulegen - und zwar so, dass sie auch dem späteren Grubenbetrieb dienen konnten. Nach der Währungsreform im Juni 1948 wurden die Arbeiten vorübergehend eingestellt, um nach einer kurzen Pause gegen Ende des Jahres mit eigenem Personal wieder aufgenommen zu werden.

Die meisten Arbeiten am Schrägschacht konnten überwiegend von unten nach oben durchgeführt werden. Der Vorteil dabei war, dass unter Ausnutzung der Schwerkraft das Haufwerk wesentlich leichter verladen werden konnte. Daneben fielen nur noch 125 Meter reine Abteufarbeiten an, von der Annastollensohle abwärts.

Mit der schwierigste Teil der Arbeiten an dem neuen Schacht mit dem schrägen 67-Grad-Winkel war der Einbau der Gleise, die künftig zur Führung des Förderkorbes dienen sollten. Schließlich waren auch dafür noch keine Vorbilder vorhanden!

Doch auch sie wurden gemeistert! „Im ganzen ist es uns aber gelungen, die Kosten der Arbeiten sehr niedrig zu halten. Die Gesamtkosten des Schrägschachtes bis zur 500-m-Sohle einschließlich Betonausbau aber ohne Schachteinbau haben 1355,- DM je Meter betragen“, bilanzierte Wiederstein in der Werkszeitschrift.

Der „Königszug“-Betriebsführer hatte auch andere Zahlen zusammengetragen: „Die Fertigstellung der gesamten Anlage, mit Strecke, Füllörtern, Maschinenraum, Brechanlagen, Füllstellen, Entladestelle und Bandstrecke, erforderte einen Sprengstoffverbrauch von 29.282,5 kg. An Bohrarbeit wurden 48.650 Bohrmeter geleistet und 39.100 Schüsse abgetan. 105.424 Wagen Berge und 30.144 Wagen Material sind auf den einzelnen Sohlen und zum großen Teil im alten Hauptschacht transportiert worden.“

Stolz sein konnten die Bergleute auf diese Meisterleistung. Die Montantechnik im Schelderwald hatte ihren Höhepunkt erreicht. Freilich hatte sie auch ihren Preis: Vier Todesopfer fordert der Bau dieser einen Anlage. Von der eigenen Belegschaft waren es Albrecht Klein aus Eibach sowie Oskar Arhelger und Heinrich Horch aus Nanzenbach, die verunglückten. Am vorletzten Tag des Jahres 1955 kam Gustav Hörentrup aus Herne um, ein Monteur, der bei der Essener Firma Funke & Huster beschäftigt gewesen war. Diese hohe Opferzahl war kein Zufall! Der Schachtbau zählt bis zum heutigen Tage zu den gefährlichsten Arbeiten der Männer unter Tage, die ohnehin zur Risiko-Gruppe Nummer eins gehören.

Für den unternehmerischen Wagemut ehrten die Bergverwaltung und die Belegschaft den Mann, der in schwierigen Zeiten zukunftsträchtige Entscheidungen getroffen hatte. „Zu Ihrem 60. Geburtstag haben wir beschlossen, dass dieser Schacht Witte-Schacht heißen soll“, teilten sie ihm am 7. November 1951 mit, gut vier Jahre bevor der Probebetrieb begann. Dessen Beginn fiel auf den 21. November 1955, den 400. Todestag des Vaters der modernen Bergbaukunde: Georg Agricola aus Sachsen.

Ein halbes Jahr liefen der alte Schacht und der Witte-Schacht nebeneinander. Ab Mai 1956 blieb der Witte-Schacht als einziger Hauptförderschacht des „Königszugs“ übrig.

Im Dezember des gleichen Jahres schrieb Jochen Dietrich von der Bergverwaltung: „Der Schacht leistet, was wir von ihm erwartet haben. Wir ziehen mühelos 70 t je Stunde von der 500-m-Sohle. Ebenso wurde das Ziel Arbeitskräfte einzusparen erreicht“ - ein Argument in den Jahren des Wirtschaftswunders, als in der Bundesrepublik „Arbeitslosigkeit“ fast zum Fremdwort wurde. Dietrich weiter: „Die Schachtbedienung besteht je Schicht noch aus einem Fördermaschinisten und einem Mann am Kreiselwipper gegen vorher vierzehn Mann je Schicht. Über Erwarten hat es sich gewährt, dass wir die Seilfahrtszeit gegenüber dem früheren Zustand wesentlich verringert haben. Andernfalls hätte uns die Arbeitszeitverkürzung sehr viel härter getroffen.“