Dillenburg-Oberscheld. Schon seit Jahren stehen drei Windmühlen am nördlichen Ende des Schelderwaldes, bei Hirzenhain. Im letzten Jahr kamen drei weitere dieser Anlagen hinzu, die auf sanfte Art Strom produzieren. Zwischen Oberscheld und Tringenstein wurden sie errichtet, am Rande der ehemaligen Mülldeponie. So umweltfreundlich die Stromproduktion ist - eine Bereicherung für die Landschaft sind die riesigen Propeller nicht, die von fast allen Erhebungen des Schelderwaldes zu sehen sind. So werden sie auch sicher nie unumstritten sein.

Umwelt- und Landschaftsschutz, das waren noch keine Themen, als zum ersten Mal in dieser Region Strom produziert wurde. Fast hundert Jahre ist das inzwischen her. Die Parallele zu heute: Auch damals entstand die elektrische Energie sozusagen aus einem Abfallprodukt, und wäre aus heutiger Sicht durchaus als ökologisch sinnvoll zu bezeichnen.

1905 war am Ortsrand von Oberscheld ein Hochofen angeblasen worden, der dem „Hessen-Nassauischen Hüttenverein" gebaut worden war. Das Jung'sche Familienunternehmen, das seinen Sitz im oberen Dietzhölztal hatte, war aus ökonomischen Gründen in hohem Maße daran interessiert, alle Fortschritte der Technik für ihre Betriebe zu nutzen. Die Betriebe, das waren neben etlichen Eisenerzgruben im Schelderwald auch einige Hütten in der weiteren Umgebung. Deren Hochöfen waren freilich in den Jahrzehnten zuvor erloschen. Denn mit Holzkohle als Energieträger waren diese befeuert worden, eine Technologie, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schließlich überholt war.

Schon gegen 1880 waren bei Frankfurt erste erfolgreiche Versuche mit Hochspannungsleitungen durchgeführt worden. Was lag für die Jungs da näher, als auch die Bergwerke der Umgebung mit Strom zu versorgen? Denn die Grundlage für die Produktion elektrischer Energie hatte der Hessen-Nassauische Hüttenverein jetzt mit seinem neuen Hochofen geschaffen. Bei dessen Betrieb fielen nämlich Gichtgase an, die man nutzbringend zu diesem Zwecke verwenden konnte. So wurde im August 1906 eine Stromerzeugungsanlage in Betrieb genommen, die erste im Dillkreis überhaupt. Sie hatte eine Leistung von 130 kW bei einer Erzeugerspannung von 500 Volt.

Von nun an schritt die Elektrifizierung zügig voran. Zunächst urden Kabel zu den Gruben gelegt. Die Spannung musste dafür von 500 auf 5000 Volt umgespannt werden.

Dafür musste Gelände der Oberschelder Gemarkung benutzt werden. Deswegen wurde dieser Gemeinde im Gegenzug vom Hüttenverein gestattet, ihre Haushaltungen an das Netz anzuschließen. Die Oberschelder waren damit die ersten Dillkreisler, die in den Genuss dieses technischen Fortschritts kamen. Ein Jahr später wurde ein 5000-Volt-Kabel zur Schelder Hütte gelegt. Gleichzeitig wurde die Gemeinde Niederscheld mit angeschlossen.

Bis 1909 wurden die Stromerzeugungsanlagen am Hochofen ausgebaut. Jetzt waren es vier Generatoren, die immerhin schon 1100 kW produzierten. Das Netz konnte somit ausgeweitet werden, zur Burger Hütte und zu den beiden Städten Herborn und Dillenburg.

Diese Ausweitung machte eine Änderung in der Betriebsverwaltung notwendig. Die bis dahin beim Hochofenwerk liegende Veraltung wurde 1910 einer neu gegründeten „Verkehrs-zentrale" mit Sitz in Dillenburg übertragen. Im selben Jahr begann man mit dem Bau von Überlandleitungen - den ersten Deutschlands - , die mit einer Übertragungsspannung von 22000 Volt betrieben wurden. Die Versorgung der Werke des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins war dabei immer die vorrangige Motivation. Eher nebenbei wurden die berührten Gemeinden mit angeschlossen.

Die erste Leitung ging von Oberscheld über Nanzenbach, Wissenbach, Eibelshausen und Ewersbach zur Neuhütte. Von Eibelshausen wurde sie ins Hinterland weitergeführt, zur Breidenbacher-, Amalien-, Ludwigs- und zur Wilhelmshütte. Gleichzeitig war mit dem Bau einer anderen Freileitung von Oberscheld über Endbach, Weidenhausen, Kehlnhausen und Holzhausen zur Wilhelmshütte begonnen worden. Eine Ringleitung war somit entstanden, die im Jahre 1911 geschlossen werden konnte.

In den folgenden Jahren gab es noch mehrere betriebswirtschaftliche Umstrukturierungen. Durch den 1. Weltkrieg ging es nicht mehr ganz so schnell vorwärts. Jedoch konnten auch in dieser schlechten Zeit die Stromverteilungsanlagen noch ausgebaut werden. 1926 schließlich kam die Stadt Haiger ans Netz.

Freilich stießen jetzt die Schalt- und Umspannanlagen am Hochofen an ihre Grenzen. In den beiden folgenden Jahren wurde an der Straße von Oberscheld nach Niederscheld ein Hauptumspannwerk errichtet, das 1928 für die „Hessen-Nassauische Überlandzentrale", wie sie jetzt genannt wurde, den Betrieb aufnahm. Schon in den drei Jahren vorher waren unter der Verwaltung derselben Gesellschaft die Wasserkräfte im Rehbachtal genutzt worden, die Stromversorgung auch im südwestlichen Teil des Dillkreises aufzubauen.

Nach dem 2. Weltkrieg konnten die bestehenden Anlagen der Nachfrage, die vor allem durch das Wachsen der heimischen Industrie rapide anstieg, nicht mehr lange gerecht werden. Deswegen wurde 1948 das Umspannwerk Oberscheld durch eine Freiluft-Umspannanlage für eine Betriebsspannung von 110 000 Volt erweitert und über eine zwanzig Kilometer lange Überlandleitung in Wetzlar an das Verbundnetz der „Preußenelektra angeschlossen. Später wurde sie zu einer 110-kV-Doppelleitung ausgebaut und als Ringleitung vom nordhessischen Kraftwerk Borken über Waldeck-Frankenberg-Friedensdorf-Oberscheld-Wetzlar bis nach Gießen geführt.

Das Umspannwerk in Oberscheld arbeitet auch heute noch, schon seit langem im Besitz der EAM. Eigener Strom wird allerdings schon lange nicht mehr hier produziert, denn der Hochofen wurde bekanntlich 1968 abgeblasen. Dass der neuerdings ein paar Kilometer weiter von den Windmühlen wieder hergestellt wird - steht das nicht in der Tradition einer Region und ihrer Bewohner, die es schon seit jeher gut verstanden, die Bodenschätze und die Kräfte der Natur für sich nutzbar zu machen?